Litauen

Angst vor der Abschaltung des AKW Ignalina

Ein Werksgelände im Wald im äußersten Nordosten von Litauen, nur wenige Kilometer von der Grenze zu Weißrussland und zu Lettland: Eine große Wendeschleife mit Bushaltestelle und Parkplatz, ein paar schäbige Bürogebäude, eine Mensa, dahinter die eigentlichen Fabrikanlagen. Gerade ist Schichtwechsel, ein paar Arbeiter haben sich auf rostigen Leitungen niedergelassen und essen ihre Frühstücksbrote. Es wäre eine Industriestätte sowjetischer Bauart wie viele andere in Litauen, stünde über dem Eingang nicht auf Litauisch und Russisch „Atomkraftwerk Ignalina“. Davor stehen ein paar Informationstafeln, besondere Sicherheitsvorkehrungen gibt es nicht.Die sowjetischen Planungen aus den 70er-Jahren sahen an diesem Standort den Bau von insgesamt vier Reaktoren vor, zwei davon gingen noch kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion ans Netz. Für das kleine Litauen war es ein überdimensioniertes Kraftwerk, das nicht nur den eigenen Strombedarf fast vollständig deckte, sondern auch noch Exporte ins Nachbarland Weißrussland und in die russische Exklave Kaliningrad ermöglichte. Für die EU war das Atomkraftwerk dagegen vor allem ein Sicherheitsrisiko: Als Auflage für einen Beitritt musste sich Litauen vertraglich verpflichten, den ersten Reaktor bis 2005 vom Netz zu nehmen, der zweite muss bis zum 31. Dezember dieses Jahres folgen.Aleksander, einer der Ingenieur in dem Kraftwerk, kann darüber nur den Kopf schütteln. „Wo soll ich denn einen anderen Arbeitsplatz hier finden?“, fragt der kräftige Mittvierziger. „Hier gibt es doch nur das Kraftwerk.“ Aleksander ist vor über zwanzig Jahren aus Russland nach Visaginas gekommen, wie viele seiner Kollegen. Das Kraftwerk sollte das größte in der gesamten Sowjetunion werden, und es ist ihr ganzer Stolz – dass hier schon in ein paar Wochen der Betrieb eingestellt wird, ist für sie immer noch  unvorstellbar.Namensgeber für das Atomkraftwerk ist die 45 Kilometer entfernte Bezirkshauptstadt Ignalina. Aleksander und seine Kollegen wohnen jedoch im benachbarten Visaginas, einer Stadt mit rund 28.000 Einwohnern. Riesige Strommasten säumen die autobahnartig ausgebaute Verbindungsstraße, Visaginas selbst ist von tristen Plattenbauten geprägt. Ein historisches Zentrum gibt es nicht: Die Stadt entstand erst ab 1975 im Zusammenhang mit dem Kraftwerksbau. Wie das Kraftwerk blieben viele Bauten unvollendet und stehen heute als Ruinen in der Gegend herum. Immerhin wurde versucht, die Tristesse durch Grünanlagen ein wenig freundlicher zu gestalten. Außerdem entstanden mehrere moderne Einkaufszentren – und ein großes neues Arbeitsamt. Das wird ab dem kommenden Jahr dringend benötigt: Fast jeder Arbeitsplatz in Visaginas hängt direkt oder indirekt vom Kraftwerk ab.

Ina und ihre jüngere Kollegin Jolanta arbeiten als Lehrerinnen in einer Berufsschule und sehen mit Sorge in die Zukunft. „Die Stadt wird aussterben. Schon heute werden immer weniger Kinder in der Schule angemeldet. Und bislang haben wir die Jugendlichen vor allem für eine Tätigkeit im Kraftwerk ausgebildet – wo sollen jetzt Arbeitsplätze herkommen, mitten in der Wirtschaftskrise?“, sorgt sich Ina.Eine Debatte über die Gefahren der Atomkraft findet hingegen nicht statt, weder in Visaginas noch im übrigen Litauen – Angst bereitet den Menschen vielmehr die drohende energiepolitische Abhängigkeit von Russland. Solange keine neuen Kraftwerke gebaut werden und die Stromleitungen ins westliche Ausland nicht fertig gestellt sind, wird Litauen wohl auf Lieferungen aus dem Osten angewiesen sein. „Die EU lässt uns im Stich – sieht so Solidarität in Europa aus?“, schimpft Ina. Auch und gerade Deutschland gilt als Schuldiger: Der „Schröder-Putin-Pakt“ ist in Litauen längst zum Schlagwort geworden, und die geplante Gaspipeline durch die Ostsee gilt als Symbol für egoistische Energiepolitik der großen Mitgliedstaaten auf Kosten der osteuropäischen EU-Länder.Nikolaj muss sich als Rentner keine Angst um seinen Arbeitsplatz mehr machen, und auch die große Politik kümmert ihn wenig: Sorge macht ihm eher, wie er ab Jahresende von seiner niedrigen Pension die Stromrechnungen zahlen soll. Wenn der Strom nicht mehr aus dem Atomkraftwerk kommt, werde doch alles doppelt so teuer, klagt er. Stromsparen wird in Litauen nach wie vor kleingeschrieben: Zu reichlich und zu billig kam der Strom bislang aus der Steckdose. Genau hier sieht Jolanta aber auch eine Chance: „Wir müssen einen neuen Umgang mit Energie finden und auf erneuerbare Quellen setzen. Und auch wenn im Kraftwerk die Lichter ausgehen, das Leben in Visaginas wird schon irgendwie weitergehen.“


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