Geschichte des Kommunismus - mangelhaft
Petr Simicek ist Geschichtslehrer am Gymnasium Olga Havlova in Ostrava (Ostrau). Er gibt seinen Schülern gern den Auftrag, in ihrer Familiengeschichte zu forschen, wie ihre Eltern den Alltag in den 1970er und 1980er Jahren erlebt haben. „Wir fangen im Kleinen an und kommen erst dann zur großen Geschichte“, erklärt Simicek seine Methode.
Denn so ging es ihm selbst auch: Sein Interesse an der jüngsten Geschichte wurde durch das Schicksal seines Onkels geweckt, der in den 1950er Jahren in einem kommunistischen Schauprozess zur Zwangsarbeit im Uranbergbau verurteilt wurde.„Ich habe damals begriffen, dass totalitäre Systeme von einzelnen Menschen getragen werden müssen, die sich diesem System verschreiben und dass ohne diese Leute das System nicht funktionieren würde“, erklärt Simicek. Eine Erkenntnis, der sich die Mehrheit der Tschechen bis heute verschließt und mit der auch die meisten Schüler in ihrer Schulzeit nicht konfrontiert werden.
Diskussionen über Zivilcourage sucht man in den allermeisten tschechischen Klassenzimmern vergeblich, ebenso wie fundierten Unterricht über die Geschichte der kommunistischen Tschechoslowakei. Die Gründe sind vielfältig: Bislang war es weitgehend den einzelnen Schulen überlassen, ob und wieviel Geschichtsunterricht sie auf den Stundenplan setzen wollten. Auch die Entscheidung, welche konkreten Zeitepochen behandelt und wie sie gewichtet werden, bleibt den Schulen überlassen. Da die Lehrerausbildung in der neueren Geschichte in Tschechien noch immer mangelhaft ist, sind viele Lehrer ratlos, wie sie das Thema in der Schule unterrichten sollen. „Und so weichen sie ihm lieber aus“, sagt Petr Simicek.
Die gängige Praxis in den Geschichtsstunden sieht bislang so aus: chronologisches Durchhecheln durch die ‚wichtigsten’ Geschichtsdaten, Überflutung mit Faktenwissen, wenig Einordnung in größere Zusammenhänge. Am Ende der Schulzeit fällt die jüngste Geschichte nach 1945 häufig unter den Tisch. Viele tschechische Gymnasiasten verlassen die Schule, ohne dort ein Wort über die Zeit des Kommunismus gehört zu haben.
Erst jetzt hat das tschechische Bildungsministerium Handlungsbedarf erkannt. In einer neuen Richtlinie, die am 1. September in Kraft getreten ist, werden alle Schuldirektoren aufgefordert, die Behandlung der jüngsten Geschichte zur Priorität zu machen. Dazu gibt es eine Reihe von Hinweisen auf geeignete Unterrichtsmaterialien für die Lehrer.
Bislang musste, wer einen spannenden Unterricht mit audiovisuellen Medien machen wollte, sich das Material in seiner eigenen Freizeit, unbezahlt, selbst zusammensuchen. Und das sei das eigentliche Problem, sagt Lukas Lebduska vom Institut zum Studium totalitärer Regime, einer Art tschechische Birthler-Behörde. Das Institut entwickelt seit einiger Zeit didaktische Materialien für den Geschichtsunterricht. „Das alles dem Lehrer allein zu überlassen, wäre sehr einfach. Leider passiert das in unserem Bildungswesen häufig“.
Das Bildungssystem in Rumänien ist in diesem Punkt schon weiter. Bereits vor einem Jahr wurde an Gymnasien auf Initiative eines Forschungsinstituts zur Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen ein einjähriges Wahlfach über die Geschichte des Kommunismus eingerichtet – zu jenem Zeitpunkt ein Novum für Osteuropa und ein überraschender Schritt für Rumänien. Denn bislang hat sich das Land mit der eigenen Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur äußerst schwer getan. So hielt Rumänien nach der Wende jahrelang die Archive der Kommunistischen Partei unter Verschluss, ebenso die Akten des berüchtigten Geheimdienstes Securitate.
Eine Kehrtwende gab es erst Ende 2006. Damals hatte eine Historikerkommission im Auftrag des rumänischen Staatschefs Traian Basescu eine Studie über die Diktatur herausgegeben. Das Fazit der Forscher: Das kommunistische Regime hatte rund zwei Millionen Menschen in Gefängnissen und Arbeitslagern gesperrt. Ein Viertel davon starb, weitere 500.000 wurden Opfer von Verfolgung und Terror. Diese Zahlen stehen jetzt auch in einem Schulbuch, ebenso Erklärungen, wie solche Grausamkeiten geschehen konnten. Die erste Auflage vom Herbst 2008 war in Windeseile ausverkauft, weniger an Schüler, sondern an Eltern. „Der Wissensbedarf ist auch in dieser Generation noch riesig“, meint der Historiker Dorin Dobrincu, einer der Mitautoren des Schulbuches und Mitglied der Historikerkommission.
In 35 Stunden – das ist neunmal so viel Zeit wie im obligatorischen Geschichtsunterricht – erfahren die Schüler des Wahlfachs Dinge, die sie weder im Elternhaus noch in der Schule so gehört haben. Doch nur zwei Prozent aller potenzieller Schüler können bislang das Fach wählen, die anderen 98 Prozent bekommen es gar nicht angeboten. „Nicht den Schülern fehlt die Begeisterung für den Stoff, sondern die Schulleitungen lassen sich nur schwer überzeugen, es anzubieten“, sagt die Historikerin Raluca Grosescu vom Forschungsinstitut zur Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen. Sie organisiert landesweit Fortbildungen für Lehrer, die das Fach unterrichten möchten.
Dass es dafür in Rumänien wie in Tschechien einen großen Bedarf gibt, zeigt beispielsweise eine im Februar veröffentlichten Schülerumfrage der Organisation „Mensch in Not“. Darin geben drei Viertel der tschechischen Schüler an, zu wenig oder fast gar nichts über die Jahre 1948 bis 1989 zu wissen. Nur ein Viertel fühlt sich ausreichend informiert. Bei einem Schreibwettbewerb in Rumänien sollten die Schüler aufschreiben, was sie unter dem Wort „Kommunismus“ verstehen. Das Ergebnis: Die meisten Schüler erklärten lediglich, man habe Schlange stehen müssen. Warum, wussten sie aber nicht. Andere meinten, früher hätten alle Arbeit gehabt und wären nicht so extrem reich oder arm gewesen wie heute. Sie schrieben sehnsuchtsvoll über eine Zeit, die sie gar nicht kennen. Es waren die verklärten Erinnerungen ihrer Eltern, die die Schüler da notierten.
Dass die meisten Eltern bislang zumeist nostalgisch auf die kommunistische Zeit schauen, verwundert den 38-jährigen Historiker Dobrincu nicht: „Viele haben ein Doppelleben geführt, sind Kompromisse eingegangen“. So war jeder vierte in Rumänien vor der Wende Parteimitglied, die meisten aus opportunistischen Gründen. Hinzu kommt, dass die heutige rumänische Demokratie von zahlreichen Nomenklaturisten geführt wird, die oft kein Interesse an der Wahrheit über die kommunistische Diktatur haben, in die sie selbst verstrickt waren.
In Tschechien versuchten Vertreter der Kommunistischen Partei in den vergangenen Monaten wiederholt, Einfluss auf Inhalt und Form des Geschichtsunterrichts zu nehmen, indem sie etwa gegen den Einsatz von Zeitzeugen oder historischen Dokumentarfilmen über die stalinistischen Schauprozesse protestierten. Tschechische Schüler würden „antikommunistisch“ indoktriniert, so der Vorwurf.
Auch die Gründung des tschechischen Instituts zum Studium totalitärer Regime, dessen Hauptanliegen es ist, die früheren Geheimdienstakten öffentlich zugänglich zu machen, kam nur mühsam gegen die Widerstände von Sozialdemokraten und Kommunisten zustande. Der Geschichtsunterricht spiegele letztlich die unzureichende Auseinandersetzung der gesamten Gesellschaft mit ihrer kommunistischen Vergangenheit wider, meint Petr Simicek. „Die tschechische Gesellschaft hat noch keine grundlegende Katharsis durchgemacht. Das ist traurig, 20 Jahre nach der Wende, aber es ist die Realität“.
Und die rumänische Schriftstellerin Ana Blandina, die vom kommunistischen Regime wegen ihrer kritischen Texte verfolgt worden war, bezeichnet den rumänischen Geschichtsunterricht scharfzüngig als „Gehirnwäsche von jenen, die ihre Vergangenheit nicht kennen“.