Ukraine

Zum Zusehen verurteilt

„Für die anderen war es noch schlimmer“, hatte der Großvater von Patrick Desbois immer gesagt. Mehr nicht. Als französischer Kriegsgefangener war er im Zweiten Weltkrieg in ein deutsches Straflager in der Ukraine deportiert worden, nach Rawa-Ruska. Wer „die anderen“ waren, hatte der Enkel nie zu fragen gewagt. Und viel später erst verstanden, dass damit die Juden gemeint waren. Bei einem Besuch in Rawa-Ruska, dem damaligen Stalag 325, wurde Patrick Desbois bewusst: „Die französischen Kriegsgefangenen waren dazu verurteilt, Zeugen des Völkermords an den Juden zu werden. Sie waren dazu verurteilt, zuzusehen.“An die zehntausend erschossenen Juden aber erinnerte nichts in Rawa-Ruska. Patrick Desbois begann, Fragen zu stellen. Er wollte diese Stätten finden. 

Die Erfahrung in Rawa-Ruska war der Beginn einer Recherche, die inzwischen acht Jahre andauert, in deren Folge Patrick Desbois und sein Team mit fast 900 Zeitzeugen gesprochen haben und Dutzende Stätten der Judenvernichtung in der Ukraine und in Weißrussland markiert haben. Die Geschichte von Desbois und seiner Organisation „Yahad – in unum“ (der hebräisch-lateinische Name bedeutet „zusammen“) ist die einer gewaltigen Kraftanstrengung, angestoßen durch die Familiengeschichte eines Priesters und befördert durch dessen Hartnäckigkeit.Allein in der heutigen Ukraine brachten deutsche Truppen nach dem Einmarsch im Juni 1941 rund 1,5 Millionen Juden um, schätzt Holocaust-Experte Arno Lustiger. Es war kein industrieller Massenmord wie in den Vernichtungslagern auf polnischem Boden.

Es war ein Holocaust durch Erschießen, durch lebendig Verbrennen, durch Ersticken. Und alles geschah im Blickfeld der Öffentlichkeit: Auf Marktplätzen, Waldlichtungen, an Feldrändern. Die Teams (inzwischen gibt es mehrere) von „Yahad – in unum“ sprechen mit meist sehr alten Menschen. „Die Zeit ist stehen geblieben in diesen Dörfern, die Vergangenheit nicht vergangen“, sagt Desbois. „Manchmal hören die Leute mitten im Gespräch auf und sagen: Ich darf nicht mit Ihnen reden. Dann haben sie Angst davor, nach Sibirien deportiert zu werden, oder sogar davor, dass die Deutschen zurückkommen.“ Seit Jahrzehnten hat diese Menschen keiner mehr über das Grauen befragt, das sie mit ansehen und bei dem sie manchmal auch helfen mussten.

In seinem Buch schildert Patrick Desbois solch eine Begegnung: „Plötzlich hält Petriwna inne, ihr Körper macht merkwürdige Bewegungen. Gestikulierend stößt sie hervor: ‚Wissen Sie, es ist nicht leicht auf Leichen zu gehen.’ Augenblicklich erkenne ich, dass sie Unsägliches mitzuteilen versucht, ihr ganzes Leid. Sehr ruhig frage ich sie: „Sie mussten auf den Leichen der Ermordeten gehen?“ Sie erwidert: „Ja, um sie zu stampfen. Wir waren dreißig junge Ukrainerinnen, die die Leichen der Juden mit bloßen Füßen festtrampeln und mit einer dünnen Schicht Sand bedecken mussten, damit sich die anderen Juden darauflegen konnten.“ Solch grauenvolle Details über den Holocaust in der Sowjetunion und die makabren Verpflichtungen der örtlichen Bevölkerung waren bisher unbekannt. In den deutschen Akten tauchen sie nicht auf und die Quellen der sowjetischen Sonderkommissionen, die direkt nach Kriegsende die Dorfbewohner befragten, wurden von westlichen Historikern nicht ausgewertet. Oft sind noch nicht einmal die Erschießungen vermerkt.

Die Zeitzeugen erzählen auch von jüdischen Zwangsprostituierten bei den örtlichen deutschen Dienststellen. Sie erinnern sich an ihre Namen und daran, wie auch diese Frauen schließlich mit dem Lastwagen in den Wald gefahren wurden und nicht wiederkamen. „Ich nehme keine Beichten ab“, sagt der Priester Desbois, „ich arbeite wie ein Kriminalist.“ Drei Zeugen müssen unabhängig voneinander eine Tatsache bestätigen. Erwähnen sie einen Erschießungsort, werden sie dorthin gefahren. „Dort erinnern sie sich meist an alles“, sagt Desbois. Und es gibt die Patronenhülsen der Deutschen, die gesammelt und gezählt und von Desbois gerne als handfeste Beweise vorgezeigt werden.

„Der vergessene Holocaust“ heißt Desbois’ Buch in der deutschen Übersetzung. Ein sehr selbstbewusster Titel, der für sich in Anspruch nimmt, dass ein Mann quasi im Alleingang eine unbekannte Seite eines Völkermords aufgedeckt hat. In Frankreich hat diese Behauptung für heftige Kritik gesorgt, die auch vor persönlichen Diffamierungen nicht zurückschreckte. Zu den harmloseren Kommentaren gehört ein Aufsatz der Historiker Christian Ingrao und Jean Solchany, die dem Priester vorwarfen, ihre Forschung nicht beachtet zu haben und zu stark das Rampenlicht zu suchen. Andererseits wurde Desbois bereits von Präsident Sarkozy zum Ritter der Ehrenlegion ernannt.

Zeitzeugin Jewgenia Nasarenko aus Busk, Ukraine / Yahad – in unum

In Deutschland verteidigt der Berliner Holocaust-Forscher Michael Wildt den umtriebigen Priester: „Ich halte Desbois für einen ausgesprochen integren, engagierten Mann“, sagt der Lehrstuhlihaber an der Humboldt-Universität. Einen „unbekannten Holocaust“ aber habe Desbois nicht entdeckt: „Das ist sicherlich ein Schlagwort, das der sensationellen Aufmachung des Buches seitens der Verlage oder seitens von Medien geschuldet ist.“ Die Shoah in der Ukraine und anderen Teilen der Sowjetunion sei durchaus erforscht. Dennoch könnten die Ermittlungen des Priesters auch für Historiker für Bedeutung sein, erläutert Michael Wildt: „Was die Alten erzählen, nun, nachdem sie alt sind und viele der damaligen Mitwirkenden mittlerweile gestorben sind, ist eine Dimension der Shoah, eine Dimension der Mitwirkung auch der jeweiligen einheimischen Bevölkerung, die bislang noch nicht erforscht worden ist.“ Desbois habe neue Quellen erschlossen, die jetzt der historischen Aufarbeitung bedürften. So sieht es auch die ehrwürdige Sorbonne-Universität in Paris, die mit Desbois zusammen gerade ein gemeinsames Forschungszentrum zum Holocaust gegründet hat.

Acht Teams von „Yahad – in unum“ fahren dieses Jahr in die Ukraine und nach Weißrussland. Vorbereitet werden die Reisen von einer Büroetage in der Nähe des Pariser Nordbahnhofs. In dieser schäbigen Ecke der Stadt, in einer ehemaligen großbürgerlichen Wohnung im Haussmann-Stil, sitzt unter anderem der junge Historiker Patrice Bensimon. Er hat in Moskau studiert, spricht fließend russisch und beschreibt, wie die Vorbereitung vor sich geht: „Eine wichtige Quelle für uns sind eben die Akten der sowjetischen Sonderkommissionen, von denen wir Kopien vom Holocaust-Museum in Washington haben, und die Ermittlungsakten aus der deutschen Zentralstelle in Ludwigsburg, die unser Mitarbeiter Andrej Umansky durchsieht. Wenn es Berichte über Hinrichtungsstätten gibt, schauen wir auf die Karten und planen unsere Reise. Und dann fahren wir los.“ Am Bildschirm zeigt Bensimon die sowjetischen Akten, seitenweise eng beschriebene Zeugenaussagen, in großer Eile handschriftlich zu Papier gebracht, „unglaublich anstrengend und langwierig zu lesen“, klagt er.

Doch die Zeit läuft den selbst ernannten Ermittlern davon. Auch in den baltischen Staaten und in Russland will Desbois bald tätig werden. So schnell wie möglich. „Wir müssen uns beeilen, bevor die Zeugen sterben“, sagt er. „Wenn die Zeugen tot sind, werden wir nie mehr herausfinden, wo die Juden sind – ihre Körper werden verschwunden sein. Heute kann man sie noch begraben, denn alle in der Nachbarschaft wissen, wo sie liegen.“Denn es geht ihm vor allem darum, den Opfern des Völkermordes Gräber zu geben.

Für die deutschen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront fielen, ist das dank der Arbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge bereits zum großen Teil geleistet. Erstmals unterstützt das deutsche Auswärtige Amt dieses Jahr auch Desbois mit 500.000 Euro.Die Bundesregierung scheint damit erkannt zu haben, dass die Ermittlungen eines französischen Paters auch ein politisches Versäumnis aufgedeckt haben. „Während jeder gefallene deutsche Soldat ein Grab auf einem Soldatenfriedhof erhält, liegen die ermordeten Juden in unmarkierten Massengräbern, vergessen zwischen Wäldern und Feldern“, kritisiert Jan Henrik Fahlbusch, Mitarbeiter von „Yahad – in unum“ in Deutschland. „Wir als Nachgeborene stehen in der Pflicht, den Opfern eine würdige Grabstätte zukommen zu lassen. Das muss eine politische Priorität für die nächste Bundesregierung sein.

“Patrick Desbois: Der vergessene Holocaust. Die Ermordung der ukrainischen Juden. Eine Spurensuche. Berlin Verlag 2009, 352 Seiten, 22,90 Euro.Die Recherche zu diesem Text wurde gefördert
von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“.


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