Menschen schreiben singend Geschichte
Der 23. August 1989 ist ein warmer, sonniger Tag – und doch kein Spätsommertag wie jeder andere. Punkt 19 Uhr dröhnt aus hunderttausenden kleinen Transistorradios in allen drei baltischen Ländern die Ballade von den drei Schwestern, die am Meeresufer erwachen, um ihre Ehre zu verteidigen. Gesungen wird dreisprachig. „Estland, Lettland und Litauen“ – für mehr als zwei Millionen Menschen im Baltikum ist dieser Refrain das Signal, einander an die Hand zu nehmen. Dadurch erstreckt sich die Menschenkette, mit der Letten, Esten und Litauer für ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion demonstrieren, auf 650 Kilometer.
In der damaligen Sowjetrepublik Lettland ist Sandra Kalniete zu dieser Zeit im Auto unterwegs. Die Kulturhistorikerin hat die Lettische Volksfront mitbegründet und muss einen reibungslosen Ablauf der Menschenkette garantieren. Sie ist besorgt, weil der Moskauer Kreml am Morgen die friedliche Demonstration verboten hat. Trotzdem lassen sich die Menschen nicht davon abhalten. Die Kette führt von der estnischen Hauptstadt Tallinn im Norden über die lettische Hauptstadt Riga in die litauische Hauptstadt Vilnius.„Das waren geballte Emotionen“, sagt Sandra Kalniete heute. „Was ich in dem Moment wirklich nicht realisierte, war, dass ich Geschichte schrieb.“
Die Volksfronten aus Estland, Lettland und Litauen wollten am 50. Jahrestag des Hitler-Stalin Paktes die ganze Welt und Europa an die geheimen Zusatzprotokolle des Nichtangriffspakts erinnern. Darin hatten die Sowjetunion und Nazideutschland Europa unter sich aufgeteilt. Die drei Baltischen Länder sollten wie Finnland unter sowjetischen Einfluss geraten. Jedoch haben Estland, Lettland und Litauen als einzige Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Unabhängigkeit nicht zurückbekommen. Mit der singenden Menschenkette nahmen die Demonstranten, die zum Teil ihre verbotenen Nationalflaggen ausgerollt hatten, den gewaltlosen Kampf um ihre Freiheit auf.
An dessen Ende stand nach blutigen, aber vergeblichen Protesten Moskaus im Herbst 1991 die staatliche Unabhängigkeit der drei baltischen Länder. Doch die Vergangenheit unter dem Einfluss Moskaus ließ sich nicht so schnell abschütteln, wie viele es gern gesehen hätten. In Lettland und Estland war damals jeder Dritte russischer Herkunft, in Litauen waren es nur sechs Prozent. Die meisten Russen wurden während der Sowjetzeit im Baltikum angesiedelt. Im Alltag gab die russische Sprache den Ton an. Mit der Wende von 1991 änderte sich alles.
Die Volksfrontaktivisten um Sandra Kalniete verstanden, dass Staat und Nation völlig neu aufgebaut werden müssen. Sandra Kalniete wechselte in die Politik und nahm das neue Staatsbürgerschaftsgesetz in Angriff. Nach 50 Jahren sowjetischer Besatzung wollte die Lettische Regierung damals deutlich machen, dass Lettland nicht ein neu gegründeter Staat, sondern Nachfolger des Vorkriegsstaates von 1940 ist. Deshalb erhalten, wie in Estland, nur jene Bürger automatisch die lettische Staatsbürgerschaft, deren Vorfahren bereits 1940 in Lettland lebten.
Alle anderen Bürger, wie die zugereisten Russen, können nur dann einen lettischen Pass erhalten, wenn sie sich loyal zum neuen Lettland bekennen und eine Prüfung in der lettischen Sprache bestehen. Noch immer sind die meisten Russen in Lettland ohne lettische Staatsbürgerschaft. Diesen Umgang mit der russischen Minderheit nimmt Russland heute wiederholt zum Anlass, um Wirtschaftssanktionen gegen die nordwestlichen Nachbarn zu erlassen oder einfach nur gegen sie zu hetzen.
4. Mai 1990: Lettland erklärt seine Unabhängigkeit, die Volksfrontaktivistin Sandra Kalniete spricht vor dem Publikum. Foto: Birgit Johannsmeier
Ohne die Staatsbürgerschaft haben die in den baltischen Ländern lebenden Russen auch kein Wahlrecht. Politiker russischer Herkunft traf man deshalb in den vergangenen Jahren höchstens als Abgeordnete im lettischen Parlament an, nicht jedoch in der Kommunalpolitik oder in höheren Positionen. Am 1. Juli 2009 hat sich das geändert: Mit dem 33-jährigen Nils Uzakovs zog zum ersten Mal in der 800-jährigen Geschichte der Lettischen Hauptstadt ein Russe in das Rathaus von Riga ein. Das war nur möglich, weil ihm auch viele Letten ihre Stimme gegeben haben.
Die Menschen entschieden nicht mehr nach der Nationalität, sie sind von den sozialdemokratischen Werten von Nils Uzakovs überzeugt.„In Uzakovs Reden geht es nicht mehr um Letten oder Russen, sondern darum, dass das Leben aller besser wird“, sagt die Soziologin Brigita Zepa. Deshalb sei der Sieg des neuen russischen Bürgermeisters nicht unerwartet gekommen, glaubt sie. Seine Partei sei die einzige, die über soziale Unterstützung spricht. Außerdem sei der neue Bürgermeister jung und intelligent, er spreche gut Lettisch und sei in der Politik noch ein unbeschriebenes Blatt.
„Die Letten sind müde von den alten Parteien, von den konservativen und nationalen“, sagt sie. Weil sie sich nur selbst bereichert hätten und für die Wirtschaftskrise verantwortlich seien. Während also die Nationalität der Einwohner Lettlands und seiner Nachbarn immer mehr in den Hintergrund tritt, werde Russland weiter versuchen, seinen Einfluss im Baltikum wieder geltend zu machen, warnt die Lettin Sandra Kalniete. Sie sitzt heute als Abgeordnete im Europäischen Parlament und ist stolz darauf, dass Lettland schon seit fünf Jahren Mitglied in der EU und in der Nato ist.
Aber diese Unabhängigkeit von Russland hänge an einem seidenen Faden. Moskau versuche, auf dem Energiesektor Druck auszuüben. 20 Jahre, nachdem Letten, Esten und Litauer gemeinsam singend für die Unabhängigkeit von Moskau demonstrierten, sagt die einstige Volksfrontaktivistin: „Wir wissen, was es bedeutet, unter dem Diktat Russlands zu leben. Wir wünschen uns gute Nachbarschaft, aber wir erwarten Respekt.“