Frostwelle in Osteuropa
Auf dem Platz der Verfassung in Warschau haben sich kleine Rauchschwaden gebildet. Überall stehen Kanonenöfchen, in denen Kokssteine glimmen. Eine alte Dame wärmt ihre Hände, während sie auf die Straßenbahn wartet. „Wie vor dreißig Jahren, als Kriegsrecht herrschte“, sagt sie. „Nur Schnee gab es damals mehr.“
Die kleinen Öfen stehen mittlerweile überall in polnischen Städten. Allein im Süden und Nordosten des Landes sanken die Temperaturen in den vergangenen Tagen auf unter minus 20 Grad. Die Frostwelle hat den öffentlichen Verkehr teilweise lahmgelegt. Wegen der Kälte springen die Busse nicht mehr an, oft ist es drinnen eiskalt, weil die Heizung nicht funktioniert. 17 Menschen sind in den vergangenen Tagen erfroren.
Die Frostwelle hat Osteuropa fest im Griff. Bei Temperaturen von minus 30 Grad starben in Russland 24 Menschen, in der Ukraine stieg die Zahl der Kälteopfer auf 30. Unter den Toten sind viele Obdachlose, von denen es allein in Moskau 10.000 bis 50.000 gibt. Nur 1.500 Plätze stehen in sozialen Einrichtungen bereit, wie Sergej Logunow von der Abteilung „Sozialschutz für die Moskauer Bevölkerung“ des russischen Sozialministeriums sagt. Doch trotz der Kälte sind noch 500 Betten leer. Viele haben Angst vor Kriminalität oder wissen schlicht nicht, dass es sie überhaupt gibt.
Stattdessen suchen viele Wohnungslose Schutz in den Metrostationen: Sie übernachten in den Gängen, fahren tagsüber in den U-Bahnen hin und her, bis Polizisten sie hinauswerfen. Oder sie schleichen sich in Hauseingänge, an deren Türen Zettel kleben wie „Schauen Sie sich um, wer nach ihnen hineingeht. Das könnten ‚bomschy‘ sein“ – Menschen ohne festen Wohnsitz.
Allein in Moskau wurden am Montag 23 Obdachlose in Krankenhäuser eingeliefert, manchen seien Finger und Zehen amputiert worden, berichten russische Medien. 15 sogenannte Sozialpatrouillen – immer zu dritt im Team, ein Fahrer, ein Sanitäter und ein Sozialarbeiter – ziehen derzeit durch die russische Hauptstadt. Für eine Elf-Millionen-Einwohner-Stadt zu wenig, sagen die Helfer.
Ärzte empfehlen Älteren und Kindern, nicht mehr aus dem Haus zu gehen. In der Ukraine schlossen die Behörden über 3.200 Schulen. Mehr als 400.000 Schüler hatten „kältefrei“. In der Hauptstadt Kiew wagen sich ohnehin immer weniger Menschen aus der Wohnung. Denn an Dächern, Fenstern und Regenrinnen haben sich wegen der mangelnden Isolierung an vielen Häusern riesige Eiszapfen gebildet. An einigen Stellen haben sie sich zu meterlangen, kiloschweren Gebilden verformt und drohen herabzufallen. In Kiew rückt eine Extrabrigade den Zapfen zu Leibe: Mit drei Mann steigen die Arbeiter auf die Dächer der Innenstadthäuser und hacken sie mit Äxten und Eispickeln ab. Um nicht abzurutschen, sind die Männer mit Schutzgurten gesichert.
In Kiew sind auch in diesem Jahr wieder zahlreiche Personen von herabfallenden Eiszapfen verletzt worden, einige so schwer, dass sie im Krankenhaus bleiben mussten. Viele Gehwege sind abgesperrt, Fußgänger müssen auf die Straßen ausweichen. „Ein Skandal“, beschwert sich Natalia. Die 56-Jährige wohnt in einer Altbauwohnung in der Altstadt. Seit Tagen hat sie Angst, auf die Straße zu gehen.
In Polen verzögert der Frost die ohnehin schleppenden Vorbereitungen zur Fußball-Europameisterschaft im Juni. Die Bauarbeiten am Breslauer Stadion wurden am Montag unterbrochen. Das Stadion sollte bis Ende März fertig werden, jetzt steht der Termin in Frage. In Danzig wurde ein Straßenausbau gestoppt. Und die Kältewelle geht weiter: Die Temperaturen sollen in den nächsten Tagen weiter fallen.