Die verschwundenen Dörfer Südossetiens
Ein kleines Haus, eine Weinlaube, eine schiefe Holzveranda inmitten von Ruinen. Katja trinkt Tee und erzählt von den Kriegen. Kommt sie auf den vor einem Jahr zu sprechen, schießen der älteren Dame die Tränen in die Augen. Ihr Tochter hätte es beinahe erwischt, erzählt sie zittrig. Sie lebte damals in einem der nahen Plattenbauten, die heute aussehen wie Schweizer Käse. Die erste Rakete schlug auf ihrem Balkon ein, als sie sich gerade die Haare wusch. Die Nacht hat Katjas Tochter dann mit ihren Kindern im Keller verbracht. Am Morgen nach dem Beschuss lag Katjas Nachbar tot am Kellereingang. Die Blutspritzer an der Wand sind noch da.
Katjas Sohn zog in den Krieg. Noch am Abend des ersten Angriffs habe er das unter dem Schuppen versteckte schwere Maschinengewehr hervorgeholt und sei gegangen. Sehr stolz habe sie das gemacht, dass er gegen die georgische Armee gekämpft habe, die damals versucht hatte, das abtrünnige Süossetien mit Gewalt wieder georgisch zu machen. Vergeblich – und unter hohem Blutzoll. Verschiedenen Quellen zufolge starben zwischen 200 und 2000 Menschen.
Am Grenzübergang Ergneti, keine zwei Kilometer von Katjas Haus entfernt, am Rand Zchinvalis, ist heute kein Durchkommen. Von dort kamen vor einem Jahr die georgischen Panzer. Der Taxifahrer stoppt lieber 200 Meter vor der Grenze. Sicher ist sicher. Geschossen wird heute noch immer wieder. Zwischen Sandsäcken und Schützengräben schüttelt der schweigsame russischer Grenzer von der Friedenstruppe, die Moskau dort stationiert hat, lächelnd nur den Kopf. Hier kommt keiner mehr durch. Georgier haben nichts mehr in Südossetien zu suchen und Südosseten nichts mehr in Georgien. Beide Seiten werfen einander Genozid vor.
Früher war an der Grenze ein Markt. Der ist verschwunden, nachdem Saakaschwili Präsident Georgiens wurde. Jetzt sei alles vermint, sagen die Einwohner. Und das Dorf Ergneti hinter der Grenze haben südossetische Milizen platt gemacht. Das war, als die georgischen Truppen von russischen und südossetischen Einheiten bis weit ins georgische Kernland zurückgedrängt wurden. „Ethnisch gesäubert, so ein Blödsinn“, sagt ein Mann um die 40 über das, was in Ergneti geschehen ist. „Wir mussten das Dorf niederbrennen.“ Dort seien im ersten Krieg 1991, nachdem Südossetien sich erstmals von Georgien losgesagt hatte, zwölf Osseten von Georgiern lebend begraben worden. Aber was ist Wahrheit und was sind Dorfmythen in diesem Geflecht jahrzehntelanger Feindschaften?
In die Kleinstadt Zchinvali kommt man heute über nur eine feste Straße aus dem Norden. Und die führt fünf Kilometer lang durch Ruinen. Häuser, Tankstellen Geschäfte, die gesprengt, angezündet, beschossen wurden. Was dort geschehen sei, könne er nicht sagen, sagt ein junger Mann achselzuckend. Er wisse es nicht. Er kenne diese Gegend der Stadt nicht einmal, sei nie dort gewesen, habe dort nie zu tun gehabt und auch keine Ahnung, wer dort gelebt habe. Eine Frau mit leeren Augen sagt nur: „Dort oben war der Krieg besonders schlimm – aber die Georgier sind keine Menschen.“Es waren Georgier, die in diesen Häusern gelebt haben. Viele waren schon vor dem Krieg gegangen, viele während des Krieges. So viel ist sicher. Der Rest sind Mythen. „Tötet Saakaschwili“, steht auf einem der Häuserreste. „Danke Russland“ daneben.
Vor seinem kleinen Haus am Rande des Zentrums Zchinvalis steht Kostja. Der Arzt blickt über die Allee, macht eine ausladende Handbewegung. „Da, dort und hier haben Georgier gelebt“, sagt er und deutet auf unbewohnte Häusergerippe zwischen anderen zerschossenen Häusern. Die Reste des Nachbarhauses haben Planierraupen eingewalzt. Auch die Nachbarn waren Georgier. „Zwei Tage vor Kriegsbeginn sind sie gegangen.“Kurz danach begannen Beschuss, Bombardement und Straßenkämpfe. Schießereien sei sie gewohnt, das kenne sie aus dem ersten Krieg von 1991 und den Jahren danach, sagt Katja auf ihrer Veranda. Damals seien sie mit dem Panzer in den Krieg gefahren und hätten die Munition vergessen, scherzt sie. Was letztes Jahr passiert sei, das habe jedoch eine ganz andere Dimension gehabt: Raketenwerfer, Bombardements aus der Luft, Panzer.
„Heute sind wir für alles gesrüstet“, sagt ein Kommandant der russischen Truppen in Südossetien, die seit 1991 dort stationiert sind. Ein Dutzend russische Soldaten starben im vergangenen Jahr. Ihr Camp auf einem Hügel an der Grenze wurde schwer getroffen.Und in Zchinvali leuchtet heute nur der Bahnhof in frischem Türkis. Auf einen Zug wartet man dort aber vergeblich – alle Gleise führen nur nach Georgien. Die Station ist geschlossen. „Es ist grotesk, aber es gibt nur einen Unterschied zwischen Georgiern und Osseten“, sagt ein Taxifahrer schmunzelnd mit einem Kopfnicken in Richtung Bahnhof, „die Georgier tragen runde Hüte – wir nicht.“