Mehr Chancen als in London
Es gibt in Warschau ein Haus, das den Wandel symbolisiert: „das weiße Haus“, wie es die Warschauer nennen. Während die Generation des 44-jährigen Geschäftsmannes Marek es immer noch als Sitz des Zentralkomitees der polnischen Volkspartei kennt, ist für Mareks 16-jährige Tochter Maja das Haus nur noch das Gebäude der polnischen Börse. Für Touristen indes ist das „weiße Haus“ ein farbloser Hintergrund für eines der aufregendsten Foto-Motive Warschaus: eine riesige Palme, Ergebnis einer Kunstaktion für ein farbigeres Warschau.
So steht das Gebäude nicht nur für den langen Weg von der Planwirtschaft zum freien Markt, sondern auch für die Entwicklung einer grauen Stadt zu einem Ort der Gegensätze.Im heutigen Warschau ist die Stadt von vor 20 Jahren kaum noch zu erkennen. Nirgendwo in Polen ist die wirtschaftliche Entwicklung so weit fortgeschritten wie in Warschau. Seit Jahren, trotz guter Entwicklungen in anderen Großstädten Polens, ist und bleibt die Hauptstadt ein gelobtes Land. Tausende Menschen ziehen dorthin auf der Suche nach den gut bezahlten Jobs. Über 1000 Euro verdient man in der Hauptstadt im Schnitt, doppelt soviel wie im 100 Kilometer entfernten Lódz.1000 Euro scheinen zwar auf den ersten Blick im europäischen Vergleich nicht besonders viel.
Vor dem alten Kulturpalast (links) standen einst dicht gedrängt die fliegenden Händler mit ihren Klappbetten / Agnieszak Hreczuk, n-ost
Doch in Wirklichkeit schätzen Wirtschaftswissenschaftler die realen Einkommen viel höher ein. Denn viele Polen verdienen mehr, als auf dem Lohnzettel steht, denn wegen hoher Sozialabgaben ist Arbeit für Arbeitgeber vergleichsweise teuer. In Polen spricht man von der „grauen Zone“, um den Begriff Schwarzarbeit zu vermeiden. Inoffiziell sollen 30 Prozent der Polen unter der Hand Geld hinzuverdienen. So liegt auch die Kaufkraft bis zu 30 Prozent höher, als offiziell angegeben.Deshalb beklagen sich weder Armani Boutiquen noch der Bentley Salon über fehlende Umsätze. Die Warschauer kleiden sich schick, fahren mit modernen Autos und wohnen in Appartements. Aber nicht in irgendwelchen. 400 bewachte Siedlungen gibt es inzwischen in der Hauptstadt. Mit eigenen Schwimmbädern, Fitnesszentren, Concierges und vor allem Kameras und Wachtdiensten. Die Kaufpreise liegen zwischen 4.000 und 7.000 Euro je Quadratmeter.
In einem gerade gebauten Hochhaus in Zentrum Warschaus, entworfen von Daniel Liebeskind, bezahlt man für solchen Luxus sogar 5.400 Euro.Die Appartements würden sich gut verkaufen, behauptet der Makler. Die meisten Käufer seien Polen: wohlhabende Eliten – Politiker, Schauspieler, Wissenschaftler, Ärzte, aber vor allem Geschäftsleute. Die meisten von ihnen verdanken ihren aktuellen Status der Transformation. Vor 20 Jahren nutzten sie ihre einmalige Chance und stiegen in die damals entstehende Mittelklasse auf. Die mutigen Händler fuhren in Richtung Westen, nach Deutschland, oder gen Süden, in die Türkei, einige wählten sich als Ziel sogar China und Indien. Nur zu dieser Zeit war es so einfach, glaubt Marek, der aus eigener Erfahrung spricht.Mit 100 Dollar, die er von Familie und Freunden geliehenen hatte, ist Marek damals nach Westberlin gefahren, hat dort ein Paar Kasten Zitronen gekauft und in Warschau auf der Straße mit mehrfachem Gewinn innerhalb eines Tages verkauft.
Dann pendelte er weiter: holte Waschpulver und Gummibärchen. Mit dem Gewinn daraus chauffierte er elektrische Heizkörper aus Warschau nach Berlin (vierfacher Gewinn), kaufte dafür noch mehr Waschpulver, später noch Jeans, die besser waren als die aus der Türkei. Schon nach der ersten Reise konnte Marek das geliehene Geld zurückzahlen, nach der dritten kaufte er sich ein größeres Auto. Das Studium brach er ab und wurde Geschäftsmann. Ein typischer Werdegang in der damaligen Zeit.Mut und Initiative reichten, um ein eigenes Geschäft zu gründen. Das wurde direkt aus dem Wagen heraus oder von provisorischen Klappbetten aus verrichtet. Deshalb nennen viele die erste Phase der wirtschaftlichen Transformation die „Ära der Klappbettgeschäfte“.
Die etwas wohlhabenderen machten ihre Geschäfte in Stahlbuden, zusammenklappbar wie eine Muschel oder Ober- und Unterkiefer, wie es die Polen nennen.Die Betten und Muscheln beherrschten das Antlitz der Städte und Dörfer für die nächsten Jahre. Allein innerhalb der zwei ersten Jahre nach der Wende sind Millionen solcher Firmen entstanden, der Großteil in Warschau und der umliegenden Wojewodschaft. Marek selbst hatte in dieser Zeit sein Klappbett mit Jeans vor dem Kulturpalast aufgestellt. Ein Paradox: Vor dem Palast, einem Geschenk von Stalin für Warschau, wuchs der neue polnische Kapitalismus. Darüber lacht Marek heute noch.So wie Marek fingen damals viele heute erfolgreiche Geschäftsleute an. Sie haben sich irgendwann von den Muscheln und Klappbetten getrennt, haben größere Firmen und Läden aufgemacht, einzelne sind sogar Millionäre geworden als Unternehmer, die an der Börse notiert sind. Die Betten und Muscheln passen heute nicht mehr ins Stadtbild. Als erster verschwand der Markt rund um das Nationalstadion. In den vergangenen Wochen wurde das zweite und letzte Symbol der „Klappbettenära“ zwangsgeräumt – die Halle vor dem Kulturpalast, der immer mehr hinter Hochhäusern verschwindet. Es wird eng in Warschaus City
Bis zur jüngsten Krise boomte die Stadt. Die Rezession änderte weniger, als man angesichts der vielen Medienberichte glauben könnte. Gerade eben wurde ein der größten Immobilienverträge der vergangenen Jahren über Büroflächen abgeschlossen. Und es gibt immer noch Bedarf. Immerhin bietet Warschau derzeit noch etwa viermal weniger Bürofläche als die westeuropäischen Hauptstädte. Deshalb braucht die Stadt Investoren, sowohl inländische, als auch aus dem Ausland.Für einen Sitz in der größten polnischen Stadt müssen sie gepfefferte Preise zahlen. Laut einem Report von CB Richard Ellis über die teuersten Bürokosten liegt Warschau auf Platz 41, hinter London, Paris, Rom und Moskau, aber vor den restlichen Mittelosteuropäischen Hauptstädten. Die ausländischen Investoren ziehen trotzdem nach Warschau.
Denn der polnische Markt bietet Chancen, die größer sind als sonst in der Region. Immerhin ist Polen mit 38 Millionen Einwohnern der wichtigste Absatzmarkt in Mittelosteuropa. Warschau mit seiner Kaufkraft und hochqualifizierten Arbeitskräften liegt im Fokus des Landes.Und so wird es wohl bleiben. Denn die Lektion der Transformation hat Polen offensichtlich gut gelernt: Während die anderen Länder der Region in der Krise taumeln, ist die Lage in Polen überraschend stabil. Das Wachstum hatte seinen Höhepunkt im Jahr 2007 mit ca. acht Prozent erreicht. Im Vergleich zu den Baltischen Staaten mit ihrem zweistelligen Wachstum war das nicht beeindruckend. Doch im Jahr 2009 ist Polen anschneidend das einzige EU-Land mit einem BIP im leichten Plus.In Polen verliefen die Wirtschaftsreformen langsamer als bei den Nachbarn. Der im Vergleich zu den baltischen Ländern große Markt (38 Millionen Einwohner) wuchs langsam, aber stabil, es entwickelte sich eine eigenen Produktion. Deshalb ist heute in Warschau von Krise wenig zu spüren. Im Juni 2009 lag die Arbeitslosenquote in der Hauptstadt bei nicht ganz drei Prozent, in ganz Polen sind es, laut Eurostat, gerade mal 8,9 Prozent, also leicht unter dem EU-Durchschnitt.
Die Hauptstädter bleiben also nicht grundlos überdurchschnittlich optimistisch. Obwohl sie den Westen vor allem wegen seiner guten Infrastruktur beneiden, fahren sie eher rein privat dorthin als zum Jobben. Auch Mareks Tochter fliegt regelmäßig nach England, um die Sprache zu lernen. Doch an eine Zukunft dort denkt sie im Gegensatz zu Gleichaltrigen in der polnischen Provinz nicht. „Wozu dann? Hier in Warschau lebt man weniger hektisch, hier habe ich meine Familie und Freunde und hier finde wohl einen guten Job“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. „Heute bietet mir London weniger Chancen als Warschau. Denn die Krise betrifft uns hier nicht.“