Polen

1939 – Beginn des Vernichtungskriegs?

Der Historiker Jochen Böhler über seine Forschungen zum Kriegsbeginn im September 1939
(n-ost) – Am 1. September 1939 überfiel Nazideutschland seinen östlichen Nachbarn Polen. In dieser Woche erscheint ein Buch des Historikers Jochen Böhler, der das Vorgehen des Militärs, zeitgenössische Briefe, Tagebücher sowie Zeitzeugenberichte untersucht hat. Im Interview spricht er über Kriegsmythen und seine in deutschen Fachkreisen umstrittene These, der Vernichtungskrieg der Wehrmacht habe bereits 1939 in Polen begonnen.Frage: Herr Böhler, Ihr neues Buch „Der Überfall“ handelt, wie der Untertitel verrät von „Deutschlands Krieg gegen Polen“. Einen wichtigen Teil nimmt darin ein Stimmungsbild der Bevölkerung der beiden Länder in den letzten Friedenswochen des Jahrs 1939 ein. Welche Atmosphäre herrschte in Deutschland und Polen im August vor 70 Jahren?Böhler: Die letzten Augustwochen waren auf beiden Seiten – das ist wie ein Spiegel – von einer bis zur Hysterie ausartenden nervösen Spannung geprägt. In beiden Ländern war man sich der Gefahr eines aufkommenden Krieges sehr bewusst, man glaubte aber dennoch nicht daran. Mit einer irrationalen Hoffnung klammerte sich man an eine Lösung. Der Hintergrund ist, dass beide Gesellschaften noch den Ersten Weltkrieg mit allen seinen Schrecken im Gedächtnis hatten. Kriegsversehrte waren ein alltäglicher Anblick in den Städten. Dieser Horror hat in beiden Ländern noch einfach dieses Bewusstsein aufrecht erhalten, dass es nicht sein kann, dass man noch mal in einen Krieg schlittert.Frage: Aber es gab doch in Deutschland den Wunsch der Revision der deutsch-polnischen Grenze und des Versailler Vertrages?Böhler: Eine Revision der Grenze, die auf Kosten des deutschen Reichsgebiets festgelegt worden war, war in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung gewollt. Trotzdem wollte nicht die gesamte deutsche Bevölkerung in den Krieg gegen Polen. Man wollte irgendwie diese Territorien zurückbekommen und hoffte, dass es auch ohne Krieg abgehen wird. Aber genau dieses Spannungsfeld bewirkte die hysterische Atmosphäre in den wenigen Wochen vor dem Ausbruch des Krieges.Frage: Wie reagierten die Einwohner in Deutschland und in Polen auf den Kriegsbeginn am 1. September?Böhler: Als sich die Nachricht verbreitete, dass Deutschland in Polen einmarschiert, herrschte eisiges Schweigen. Es gibt Fotografien von Großstädten wie Berlin oder München, wo die Leute betroffen in den Straßen stehen und die Lautsprecheransagen hören und gar nicht wissen, wie sie reagieren sollen. Auf der polnischen Seite war es so, dass es den Menschen häufig gar nicht richtig bewusst war, ob man wirklich im Krieg ist oder es nur eine Propagandafinte war.Frage: Der Feldzug der NS-Truppen in Polen dauerte rund sechs Wochen, es wurde der Begriff vom „Blitzkrieg“ geprägt. War die polnische Seite – trotz immer wieder bestehender Provokationen von Seiten des Reiches in der Zwischenkriegszeit – nicht ausreichend militärisch aufgerüstet?Böhler: Man hatte sich in Polen schon militärisch auf den Fall vorbereitet, dass man von einem der beiden starken Nachbarn, sprich entweder vom Deutschen Reich oder der Sowjetunion, angegriffen werden würde. Aber Polen hatte eben genau dieses Dilemma, dass es zwischen zwei starken Nachbarn war. Und es konnte nicht alle Streitkräfte nur im Westen positionieren und seine östliche Flanke für einen Einmarsch der Sowjetunion offen lassen. Polen musste immer einen schwierigen Balanceakt durchführen.Frage: …Sie meinen die so genannte Politik der gleichen Distanz.Böhler: …das war das Dogma. Man wollte es sich weder mit Deutschland noch mit der Sowjetunion zu sehr verscherzen, aber auch nicht zu sehr mit ihnen einigen, sondern in einer gleichen Distanz zu beiden Ländern bleiben. Militärisch hieß das für Polen, dass es von zwei Seiten bedroht war. Deswegen musste die Diplomatie her und das heißt für den Fall eines deutschen Angriffs Beistandserklärungen der Briten und der Franzosen. Darauf hatte man gezählt.Frage: Damit reißen Sie eine Ihrer Thesen: Polen wurde von seinen westlichen Verbündeten im Stich gelassen. Ihre Hauptthese ist aber, dass der NS-Vernichtungskrieg mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen begann. Damit haben Sie bereits Aufmerksamkeit, aber auch Kritik der Fachwelt erfahren.Böhler: Ich habe nie so richtig verstanden, wieso so viel darüber diskutiert wurde. Es ist wie die Frage, wenn das Glas halb gefüllt ist, ob es halb voll oder halb leer ist. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass im September 1939 der Vernichtungskrieg mit allen seinen Charakteristika in dem Maße zum Ausbruch gekommen ist, wie es ab dem Sommer 1941 in der Sowjetunion der Fall war. Es lassen sich aber alle Merkmale bereits auf dem polnischen Kriegsschauplatz finden. Es gab überproportional große Erschießungen von polnischen Kriegsgefangenen und Zivilisten. Und es gab eine massive Verfolgung der im Land lebenden Juden. Das kann man als Auftakt zum Vernichtungskrieg bezeichnen.Frage: In Ihrem Buch behandeln Sie auch Mythen, die sich um den Kriegsbeginn 1939 und die Septemberoffensive der Wehrmacht rankten.Böhler: Einige Mythen, die in der Fachwelt aufgeklärt sind, halten sich hartnäckig im Volksmund und in der allgemeinen Erinnerung. Das beste Beispiel ist die Legende von polnischen Kavalleristen, die auf dem Pferd mit gezückter Lanze deutsche Panzer angegriffen hätten. Das ist 1939 und später als Sinnbild für die hoffnungslose technische Unterlegenheit des polnischen Heeres gezeigt worden.Frage: Aber auch als Sinnbild für eine polnische Selbstüberschätzung…Böhler: …ja, nach dem Motto, wie kann man so wahnsinnig sein, nur auf dem Rücken eines Pferdes mit einer gezückten Lanze gegen Panzer anzureiten. Es gab zwar einen Angriff polnischer Kavalleristen auf ein deutsches Regiment. Die Panzer sind aber vorher von den Polen nicht gesehen worden. Sie sind also nicht sehenden Auges in dieses wahnsinnige Gefecht geritten. Sondern sie haben sich einfach geirrt. Und das ist eine der hartnäckigsten Legenden, die zwar seit langem widerlegt ist, aber immer wieder auftaucht.
Der Historiker und Buchautor Jochen Böhler. Foto: Eichborn Verlag
Zum Autor:

Jochen Böhler, geboren 1969 in Rheinfelden, studierte bis 1999 Geschichte in Köln. 2004 folgte die Promotion. Seit Oktober 2000 ist Böhler Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Warschau. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die deutsche Besatzungszeit in Polen 1939–1945 sowie NS-Verbrechen und Täterforschung. Seine Dissertation „Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939“ erschien 2006 im Fischer Verlag und wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung in hoher Stückzahl nachgedruckt. Sein neustes Buch „Der Überfall. Deutschlands Krieg gegen Polen“ erscheint diese Woche im Eichborn Verlag, 19,95 € (D) / 34, 90 CHF / 20,60 € (A). Es ist das Begleitbuch zur ARD-Dokumentation, die am 18. August um 22.45 Uhr ausgestrahlt wird.Markus Nowak
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