Freie und missionarische Presse
Die polnische „Gazeta Wyborcza“ und die tschechische „Respekt“sind beide in der Opposition entstanden, doch ein entscheidender Unterschied macht die „Gazeta Wyborcza” im Vergleich zu „Respekt” zu einem Phänomen: Die Lizenz für das unzensierte Blatt war Ergebnis der Verhandlungen am Runden Tisch zwischen den kommunistischen Machthabern und Oppositionellen in Polen. Eben dort wurden die ersten „halbfreien“ Parlamentswahlen des 4. Juni ausgehandelt, und eben dort wurde die „Gazeta Wyborcza“ (Wahlzeitung) erkämpft.
Sie sollte als erste offizielle Publikation der oppositionellen Solidarność zunächst „Tägliche Zeitung“ heißen. Der Zusatz „Wahl“ sollte nur bis zu den anstehenden Wahlen gelten, für eine publizistische Zukunft gab es keine Pläne.Bei „Respekt“ gab es indes eine Redaktion, noch bevor das neue Blatt einen Namen hatte. Es war aus einem Informationsblatt des oppositionellen Bürgerforums hervorgegangen und wurde im April 1990, also etwa ein Jahr nach der „GW“, gegründet. Während bei der polnischen Zeitung die Mission den Namen vorgab, nämlich die Entwicklung bis hin zu den Wahlen zu begleiten, schlug beim Brainstorming in Prag der Fahrer des Hauses den Titel „Respekt“ vor, und die Redakteure waren begeistert.
Von da an nahmen die beiden Publikationen eine ähnliche Entwicklung. In der Wende- und jüngeren Nachwendezeit waren sie Selbstläufer. So wurde bis Mitte der 1990er Jahre den Machern von „Respekt“ das Blatt regelrecht aus den Händen gerissen. Denn die Redaktion arbeitete investigativ und deckte viele Missstände auf: vom millionenschweren Kreditbetrug in den ersten Jahren der Marktwirtschaft über Verflechtungen von organisierter Kriminalität und hoher Politik bis zu den ghettoartigen Lebensbedingungen eines Teils der Roma-Minderheit.
Der frühere Premierminister Milos Zeman fühlte sich von „Respekt“ derart angegriffen, dass er die Redaktion mit Klagen wirtschaftlich zugrunde richten wollte. Und einer seiner Nachfolger, der Premier Stanislav Gross, musste infolge eines „Respekt“-Artikels sogar zurücktreten.Auch die links-liberale „GW“ positionierte sich als publizistische Speerspitze für ein freies Polen. Nach der Gründung konnte das Team um den Intellektuellen und Chefredakteur Adam Michnik fähige Leute um sich scharen.
„Sie haben qualitativ gute Arbeit geleistet und ein sehr gutes redaktionelles Team gehabt“, sagt Zbigniew Bajka, Medienhistoriker an der Jagiellonen-Universität Krakau. Die Zeitung sei die erste freie Publikation gewesen, die eine breite Leserschicht ansprach, und ihnen zunächst polnische, dann internationale Politik und schließlich die verheerenden wirtschaftlichen Umwälzungen im Land zu erklären versuchte, sagt der Wissenschaftler.
Der Erfolg ist umso beachtlicher, als dass die Macher beider Publikationen im Kommunismus als oppositionelle Autoren gearbeitet hatten. „Es gab etliche Leute, die nicht journalistisch schreiben konnten, alle Texte sind durch alle Hände gegangen“, erzählt Seweryn Blumsztajn, der seit August 1989 bei der „Wyborcza“ arbeitet, über die Anfangszeit. Man habe mit einem Telefon und in einem kleinen Lokal angefangen, habe zudem über Monate die Druckerei und die Vertriebsfirma nicht bezahlen können.
Für die Prager Redaktion war es eine Umstellung, plötzlich nach westlichen Standards zu schreiben. „Ich hatte damals Informationen, dass Staatssicherheitsleute verseuchte Schokobonbons nach Tschechien importierten. Aus heutiger Sicht eine eher banale Geschichte“, erinnert sich Ivan Lamper, Mitbegründer und erster Chefredakteur von „Respekt“. Eine Kollegin aus Dänemark habe sich jedoch über seinen Text gewundert. „Du erhebst Vorwürfe, aber der, um den es geht, kommt nicht zu Wort, weil du ihn nicht befragst’, erklärte sie damals.
Ich versuchte ihr klarzumachen, dass das Stasi-Typen sind, die man nicht einfach nach etwas fragen konnte, ohne gleich eingesperrt zu werden. Da prallten Welten aufeinander“, beschreibt der heutige Chef vom Dienst die harte Schule in Sachen Medienfreiheit. Mitte der 90er Jahre sah es für „Respekt“ nicht mehr so gut aus. Die Zeitschrift genoss zwar weiter Anerkennung, aber immer weniger Menschen kauften sie. Es gab inzwischen andere Zeitschriften. Außerdem wurde das Blatt zunehmend kritisiert. Ihm wurde einseitige Berichterstattung mit Orientierung auf eine liberale und zugleich alternative Leserschaft vorgeworfen.
Immer mehr Leser wandten sich von dem Blatt ab. In Polen war es vor allem „GW“-Chefredakteur Adam Michnik, der in der Kritik stand. Einst hatte er als Dissident mehrere Jahre in kommunistischen Gefängnissen verbracht, dann wurde er mit seiner Wahlzeitung zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten des Landes – und bis heute zu einer hoch umstrittenen. Kritiker attestieren ihm, eine schützende Hand über ehemalige kommunistische Kader zu halten. Seiner Zeitung wird eine „selektive“ Publizistik vorgeworfen, die „GW“ monopolisiere zudem die Interpretation der jüngsten polnischen Geschichte, heißt es.
Doch dieses Phänomen betrifft nicht allein die beiden Speerspitzen der Pressefreiheit in Polen und Tschechien. Anders als in Deutschland kämpfen beispielsweise in Polen die größten Medienunternehmen, vor allem die Presse, mit viel härteren Bandagen um politische Deutungshoheit. Der Medienhistoriker Zbigniew Bajka erklärt, dass nach 1989 auf die einstige staatliche Zensur eine informelle Zensur gefolgt sei. Denn gänzlich frei arbeiten seiner Ansicht nach viele polnische Journalisten auch heute nicht.
„Man spricht auch von der ‚Freiheit der Eigentümer’“, sagt der Wissenschaftler ironisch, dabei würden „Effekte politischer Sympathien“ zum Tragen kommen. In Tschechien, das von „Reporter ohne Grenzen“ auf die vorderen Plätze der Rangliste der Pressefreiheit gesetzt wurde, sind es vor allem intransparente Besitzverhältnisse, die Möglichkeiten versteckter Einflussnahme bieten. Jedoch sind sowohl „Respekt“ als auch „GW“ davon überzeugt, dass ihre heute immer noch hoch angesehene Position in der Presselandschaft ihrer Länder daher rührt, dass sie eindeutig Position beziehen.
„GW“-Redakteur Seweryn Blumsztajn begründet dies so: „Wir sind von Anfang an mit der Überzeugung angetreten, dass man mit einer Zeitung die Welt besser machen kann.“ Genau diesem Ethos sei man bis heute treu. So verteidigte das Blatt jüngst in einer fast kampagnenartigen Berichterstattung den früheren Präsidenten, die Solidarność-Ikone Lech Wałęsa, gegen Vorwürfe, er habe in den 70er Jahren mit dem Geheimdienst kooperiert. Auch in gesellschaftlichen Fragen mischt sich die Zeitung ein, in ihrer groß angelegten Kampagne „Menschlich gebären“ etwa machte sie die besten Entbindungsstationen des Landes ausfindig und trug erheblich zu Verbesserungen in diesem Bereich bei.
„Respekt“ geht es nach einem großen Aderlass an Redakteuren heute wirtschaftlich wieder besser. Mit einem neuen Besitzer und einem anderen Format wurde die Auflage fast verdoppelt. „Der Inhalt hat sich jedoch nicht geändert“, betont Lamper. Redakteure bei „Respekt“ würden sich weiter einer besonderen Mission verpflichtet fühlen. „Warum wir bis heute überlebt haben“, liegt für Lamper darin begründet, dass sich die Macher von „Respekt“ schon vor 1989, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, im journalistischen Handwerk eines freien Mediums geübt hatten.
HINTERGRUND:
„Euer Präsident – unser Premier”, so lautete einer der berühmtesten Aufmachertexte der „Gazeta Wyborcza” in ihrer Anfangszeit. Der Artikel von Chefredakteur Adam Michnik, im Juli 1989 erschienen, sollte den Weg vorzeichnen für den ersten nicht-kommunistischen Ministerpräsidenten in einem Ostblock-Staat – Tadeusz Mazowiecki.Spätestens seit 2008 ist „Respekt“ im Ausland bekannt: Das Magazin publizierte die Recherche eines Historikers, der den heute in Frankreich lebenden tschechischen Schriftsteller Milan Kundera verdächtigte, 1950 einen Westagenten verraten zu haben. Gerade die Aufarbeitung der Verbrechen der kommunistischen Diktatur war lange Zeit eines der Hauptthemen der Zeitschrift.