Held des Westens - Feindbild des Ostens
Keine Gedenktafel erinnert an das, was geschah. Der Schauplatz einer der spektakulärsten politischen Morde der frühen deutschen Nachkriegsgeschichte ist eine ruhige Nebenstraße in der Münchener Maxvorstadt, ein hässlicher Nachkriegsbau. Am 15. Oktober 1959 liegt hier der leblose Körper eines 1,54 Meter kleinen, nahezu kahlköpfigen Mannes um die 50 im Treppenhaus. Bei der Obduktion des Leichnams finden sich Zyankali-Spuren. Zwei Jahre rätselt die Mordkommission. Dann stellt sich ein junger Mann dem US-amerikanischen Geheimdienst in West-Berlin, bettelt förmlich um seine Verhaftung. Er bezichtigt sich des Mordes von München. Man hält ihn für einen Wichtigtuer. Doch zu genau erklärt er die Planung und Ausübung der Tat, beschreibt das Mordwerkzeug: Eine Blausäurepistole, eine Waffe wie aus einem James-Bond-Film.
Der junge Mann, 28 Jahre alt, ist der ukrainischstämmige KGB-Agent Bohdan Staschynskij. Seine Liebe zu einer ostdeutschen Frau hat ihn an seiner Agententätigkeit zweifeln lassen und zugleich Misstrauen bei seinen Moskauer Vorgesetzten erregt. In Todesangst übergibt er sich der Obhut der Westbehörden. Sein Opfer: Stepan Bandera, Führer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und Symbolfigur des blutigen ukrainischen Unabhängigkeitskampfes. Seit fast genau fünfzig Jahren liegt er nun auf dem Münchener Waldfriedhof.
Bandera? Die Passanten, die gemessen die sandige Allee entlang flanieren, können mit dem Namen nichts anfangen. In seiner ukrainischen Heimat dagegen ist „Bandera“ ein Reizwort. Keine andere Figur der jüngeren Geschichte polarisiert mehr. Im Westen des Landes ist er ein vielfach in Bronze gegossener Nationalheld. Im Osten und Süden sieht man ihn hingegen als Verkörperung des Bösen, als Bandit und Vaterlandsverräter. Oder gar als Mörder, Faschist, Nazi-Schergen. Ein Bandera-Denkmal? Hier wäre es undenkbar. National schon als KindWoher dieser Gegensatz? Fest steht: In Banderas Biographie spiegeln sich die unterschiedlichen historischen Erfahrungen der Regionen.
Am 1. Januar 1909 wurde er als Sohn eines griechisch-katholischen Priesters in einem kleinen westukrainischen Dorf geboren, etwa 80 Kilometer südlich von Lwiw (Lemberg), in einer Ecke Ostgaliziens, die nach Ende des Ersten Weltkrieges für kurze Zeit Teil der unabhängigen westukrainischen Republik war, bevor sie ans neu entstandene Polen fiel. Banderas Mutter starb früh, sein Vater, Nationalist und politisch aktiv, beeinflusste ihn bald. Von Kindesbeinen an verkehrte er in ukrainisch-nationalistischen Jugendorganisationen. Das Denken ist geprägt vom Verlust der Unabhängigkeit und der als minderheitenfeindlich erlebten Politik der Polen. Traum der jungen Aktivisten: Die Loslösung der ukrainisch besiedelten Gebiete (Ostgalizien, Wolhynien) aus dem polnischen Staat.
Mit Anfang 20 war Bandera schon wichtiger Mann der OUN, hatte sich dem bewaffneten „nationalen Befreiungskampf“ verschrieben. Kein Denker, kein großer Redner, ein Mann der Tat: Radikal, kompromisslos, opferbereit. Mit 25 wird er als Drahtzieher des Mordes am polnischen Innenminister verhaftet, zunächst zum Tode, dann zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Seinen Prozess nutzt der junge Bandera als Bühne. Stets weigert er sich, polnisch zu sprechen und beantwortet alle Fragen auf Ukrainisch – weshalb er wiederholt des Saales verwiesen wird. Dann verschwindet er hinter Gittern, bis er, völlig unverhofft, im Zuge der Zerschlagung Polens 1939 wieder auf freien Fuß kommt. Sofort setzt er seine politische Tätigkeit fort. Neuer Hauptfeind: die Sowjetunion, zu deren Territorium die Westukraine nun zählt.
In den Nazis erblickt er einen Partner im antisowjetischen Kampf – und diese in ihm. Hier beginnt der kontroverseste und historisch umstrittene Teil der Geschichte: War es auch eine ideologische Partnerschaft? Waren die Männer um Bandera neben strikten Antibolschewisten auch überzeugte Antisemiten? Zumindest von Banderas engem Vertrauten Jaroslav Stetsko sind radikal antisemitische Äußerungen belegt. Als die deutsche Wehrmacht im Juni 1941 die Sowjetunion überfällt, marschieren in ihrem Rücken auch die – von Deutschen ausgebildeten – ukrainischen Bataillone „Nachtigall“ und „Roland“. Die Nazis wollten diese Hilfstruppen hinter der Front im Kampf gegen sowjetische Partisanen einsetzen. Bandera aber sieht in ihnen den Nukleus einer ukrainischen Armee. Für die Nationalsozialisten völlig überraschend rufen die Ukrainer gleich nach dem Einmarsch in Lwiw eigenmächtig die Unabhängigkeit aus.
Zeitgleich spielte sich in der Stadt ein erster schrecklicher Pogrom ab, dessen genauer Hergang – insbesondere auch die Verstrickung und Beteiligung der organisierten ukrainischen Nationalisten – noch nicht umfassend rekonstruiert ist. Von einer unabhängigen Ukraine freilich wollten die Deutschen nichts wissen. Also lösten sie die ukrainischen Bataillone auf, Bandera-Anhänger wurden exekutiert. Er selbst kam in den Zellenbau des KZ Sachsenhausen. An der Gründung der ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) war der Inhaftierte schon nicht mehr direkt beteiligt. Die hoch organisierte Truppe focht unter Führung von Banderas frühem Mitstreiter Roman Schuchewytsch ab 1942 einen Krieg an vielen Fronten: Gegen die Deutschen, gegen sowjetische Partisanen und gegen Einheiten polnischer Untergrundarmeen.
Ostgalizien und Wolhynien verwandelten sich in ein chaotisches, grausames Schlachtfeld. Unter Regie der deutschen Besatzer wurde es zum Schauplatz des Massenmordes an den Juden, teilweise auch mit ukrainischer Komplizenschaft. Hinzu kamen Gemetzel von Ukrainern an Polen und umgekehrt. Insbesondere im Jahr 1943 werden der UPA in Wolhynien schwerste Übergriffe auf die polnische Zivilbevölkerung mit zehntausenden von Todesopfern zur Last gelegt. Nach dem Rückzug der Deutschen kämpfte die UPA bis in die 50er Jahre hinein in der Westukraine weiter für die Unabhängigkeit und gegen die Zugehörigkeit zur Sowjetunion. Zielscheibe war jeder, der in irgendeiner Form den Sowjetstaat repräsentierte – zum Beispiel die jungen Lehrerinnen und Lehrer, die aus der östlichen Ukraine in den Westen geschickt worden waren, um dort auf Russisch zu unterrichten. Menschen in der Ostukraine erinnern sich daran bis heute.
Bandera selbst blieb im deutschen Exil – in der Sowjetunion mittlerweile in Abwesenheit zum Tode verurteilt, von der Sowjetpropaganda auch nach seiner Ermordung als Faschist und Verantwortlicher des Widerstandes verteufelt. Seit der Wende indes erlebt Bandera eine Wiedergeburt – vor allem im Westen der Ukraine. In Lwiw etwa ist er allgegenwärtig. Populäre Biographien stapeln sich in den Buchhandlungen, die Souvenirhändler rund um den alten Markt verkaufen T-Shirts und Poster mit Aufdrucken seines bekanntesten Portraits – Mitte 20 ist er da wohl, Schlips, Geheimratsecken, stechender Blick. Selbst zwischen den schrillen Buttons von Sponge Bob, Tokio Hotel und der populären russischen Popsängerin Glukoza lugt sein Konterfei hervor. Ein wenig abseits des alten Marktes von Lwiw beginnt die Bandera-Straße, an deren Ende sich das neue, 2007 eingeweihte Denkmal vor der einst polnisch-katholischen Elisabeth-Kirche erhebt.
Vor einem 30 Meter hohen Triumphbogen samt goldenem ukrainischen Dreizack steht er überlebensgroß auf einem drei Meter hohen Granitsockel. Leicht könnte der neue Bandera als ein dem Abriss entgangener Lenin durchgehen. Vor dem Denkmal liegen wetterfeste blau-gelbe Plastikrosen und gleichfarbige Schleifen, gewidmet „Dem Nationalhelden der Ukraine“.
Bandera-Kritik unerwünscht
Wieso überall Bandera? „Bandera hat uns gelehrt, dass wir eine ukrainische Nation mit unserem eigenen, unveräußerlichen Recht auf einen Staat sind“, sagt Mikola Posiwnych, 28. Der junge Mann arbeitet für den Verlag Litopys UPA, der Quellen und Memoiren über die Geschichte der UPA veröffentlicht. Er wurde 1972 von Veteranen der ukrainischen Aufstandsarmee in der kanadischen Diaspora gegründet; heute bemüht er sich, Bandera und den Kampf der UPA landesweit zu popularisieren. Auf Kritik an ihrem Helden reagieren Bandera-Anhänger empfindlich. Meist wird sie negiert.
Der 34-jährige Stepan Lesiw, Direktor des im Jahr 2000 in Banderas Geburtsörtchen errichteten Bandera-Museums, sagt, angesprochen auf die Übergriffe der UPA auf polnische Zivilisten: Ja, es habe „Vorkommnisse“ gegeben, aber schließlich habe Krieg geherrscht. Von Provokationen der Polen spricht er dann, und von „Lügen“ der Russen, die alles täten, um dem Image der Ukraine Schaden zuzufügen. Von einer kritischen Aufarbeitung der Schattenseiten der Nationalbewegung ist man hier noch weit entfernt. Der blühende Devotionalienhandel, das monumentale Denkmal, das Dorfmuseum – all dies sind Stücke im komplizierten Puzzle eines regen nationalen Selbstfindungsprozesses in der Westukraine. Wichtig scheint dabei die Abgrenzung zu Russland. Damit einher geht auch eine Umdeutung des Zweiten Weltkriegs; scharf wird das Bild von der Roten Armee als Befreier der ukrainischen Gebiete in Frage gestellt.
Als Gegenfigur eignet sich Bandera wohl auch, gerade weil ihn die Sowjetpropaganda so über alle Maßen verteufelte. Schon als im Oktober 1989 erste Versuche unternommen wurden, des Nationalisten-Führers in dessen Geburtsort zu gedenken, fühlte sich die Sowjetmacht herausgefordert; Polizei füllte damals die Dorfstraßen, erinnert sich Museumsdirektor Lesiw. Weiter östlich will sich indes niemand mit Bandera-Emblemen schmücken: die Stadt Tscherkassy. 291.000 Einwohner, gelegen am Dnjepr, der hier zu einem gewaltigen See gestaut wurde. Das gegenüberliegende Ufer verschwimmt im fernen Dunst von Wasser und Himmelblau. Die Statue „Mutter Heimat“ blickt hoch auf dem „Hügel der Ehre“ über den gewaltigen Strom, gewidmet den gefallenen Sowjetsoldaten. 1943-44 tobte hier eine furchtbare Kesselschlacht. Ständig versammeln sich frisch getraute Hochzeitspaare vor dem Wahrzeichen des Stadt: Das Foto-Shooting vor dem Monument ist obligatorisch.
Das Lenin-Denkmal vor dem Rathaus dagegen wurde im November vergangenen Jahres abgerissen, 17 Jahre nach der Unabhängigkeit, vorsichtshalber nachts. Einige Leute kamen, protestierten, vor allem ältere Menschen, Rentner. Randaliert wurde nicht. Die Protestler können mit dem neuen Nationalismus nichts anfangen. Einige schimpfen, dass neuerdings per Gesetz russische Spielfilme ukrainische Untertitel haben müssen: „Jetzt tun sie schon so, als ob wir kein Russisch mehr verstehen“. Bandera? „Pfui, der war doch ein schlimmer Nationalist.“ Soll heißen: Auf jeden Fall keiner von uns. Zwar verstehen sich die Menschen auch hier als Ukrainer, nicht als Russen, doch der russischen Kultur fühlen sie sich nach wie vor verbunden. „Nationalismus“ ist für sie das Unwort schlechthin, „Banderowec“ ein geflügeltes (Schimpf-)Wort.
Bandera überall: Poster und Biographien in einem Buchladen in Lwiw / Oleksij Katschmar, n-ost
Ein Land, zwei Geschichtsbilder
Die moderne Ukraine, schreibt der Historiker Andrij Portnow, 30, zeichne sich derzeit durch ihren ganz eigenen Pluralismus aus. Dieser bestehe aus der Wechselwirkung verschiedener Geschichtsbilder, jedes für sich genommen relativ einseitig und autoritär. Doch gerade die Existenz mehrerer regionaler Zentren mit jeweils eigener Sicht auf die Geschichte verhindere, dass eines dieser Bilder die gesamte Ukraine dominiert.Anders gesagt: Die nationalistische Sicht auf die Geschichte bleibt nicht unwidersprochen. Dafür sorgt schon das tendenziell eher pro-sowjetische Geschichtsbild im Süden und Osten des Landes, in Tscherkassy und anderswo. Das Erstaunliche: Beide Seiten scheinen dies zu akzeptieren. Nur vorläufig? Niemand weiß es.„Möglicherweise sind die Nationalisten gerade deshalb so aktiv, weil sie merken, dass ihnen die Zeit davonläuft. Ihre Art Geschichte zu interpretieren wird durch den demokratischen Diskurs mehr und mehr herausgefordert“, glaubt Tarik Amar, 40, in Princeton promovierter Historiker.
Amar ist Direktor des Museums für Stadtgeschichte Ostmitteleuropas in Lwiw. Sein Institut will qualifizierte ukrainische Historiker im Land halten, ihnen ermöglichen, auf höchstem Niveau zu arbeiten. Eine neue Generation junger ukrainischer Historiker beginne damit, die „weiße Flecken“ auf der Landkarte allzu eindimensionaler Erinnerungen zu füllen. „Am Ende“, hofft Amar, „könnte ein höchst komplexes Bild von unserer Geschichte stehen.“Bandera lehnt er als Identifikationsfigur ab: „Er ist kein Symbol der Einheit. Die Ukraine ist ein riesiges Land, sie zu durchreisen dauert ewig. Vielleicht sollten die Leute eher neue Straßen bauen, um die Menschen in West und Ost zu verbinden, anstatt eine neue Geschichte zu schreiben, die nicht von allen akzeptiert wird.“
Die Recherche zu diesem Text wurde gefördert von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“.