Fenstersturz als Touristen-Gaudi
Heute werden Politiker in Prag nur noch zum Spaß aus dem Fenster geworfen(n-ost) – Unter dem Gejohle der Massen ziehen Hussiten, angeführt von Priester Jan Zelivsky vor das Prager Neustädter Rathaus. “Weg mit ihnen!”, rufen die Leute. “Ran an sie!” Die Aufständischen, mit Lanzen und Morgensternen bewaffnet, poltern gegen das Tor, brechen es auf, stürmen hoch in die zweite Etage, werden dreier Ratleute habhaft und werfen sie unter dem Jubel der Menge aus dem Fenster.Seit dem 31. Juli 1419 sind 590 Jahre vergangen, doch die Szene muss sich damals sehr ähnlich abgespielt haben. Sieht man einmal davon ab, dass die Zuschauer heute wirklich nur Zuschauer waren, Prager und Touristen. Sie müssen auch nicht einen zwanzig Jahre andauernden, blutigen Hussitenkrieg befürchten. Es ist alles nur ein Spaß, der an den Beginn der ruinösen Gewohnheit erinnern soll, mit der die Prager Geschichte geschrieben haben: Wenn ihnen jemand nicht passte, warfen sie ihn einfach aus dem Fenster. Ein britischer Komiker meinte einst, die Prager hätten sich viele Probleme ersparen können, wenn sie nur kleinere Fenster gehabt hätten.In der Tat waren die Hussitenkriege kein Grund zur Heiterkeit. Sie verheerten das Land völlig. Vier Jahre hatten die Aufständischen nach dem Tod des von ihnen verehrten Priesters Jan Hus auf dem Scheiterhaufen von Konstanz gewartet, ehe sie losschlugen. Sie wollten im Rathaus gefangen gehaltene Glaubensbrüder befreien. Der Bürgermeister flog zuerst aus dem Fenster, elf katholische Ratsherren folgten ihm. Unten wartete die Menge mit Lanzen und Mistgabeln und spießte den ein oder anderen der missliebigen Ratsleute auf. Das war die Antwort darauf, dass der böhmische König Wenzel IV. die Anhänger von Hus aus allen Staats- und Kirchenämtern ausgeschlossen hatte.Diejenigen, die jetzt etwa zehn Meter tief aus dem Fenster des Neustädter Rathauses flogen, waren Schauspieler. Sie landeten recht sanft auf Heu und fingen sich nicht einmal eine Beule ein. Den Bürgermeister von Prag 2, wie der Stadtteil heute heißt, hätte man auch nicht wirklich ins Jenseits befördern können. Zumindest wäre das unschicklich gewesen. Prag 2 hat nämlich eine Bürgermeisterin, noch dazu eine sehr hübsche junge Frau.Jana Cernochova heißt sie und organisierte die Replik des Fenstersturzes, die mehrere Tausend Schaulustige anzog. Vor dem Rathaus erwartete sie ein mittelalterlicher Markt mit Ständen, an denen man Met, Wein, Bier, Würstchen und böhmische Spezialitäten zu sich nehmen konnte. Den Kindern wurde der Fenstersturz per Puppenbühne vorgeführt. Alle hatten Spaß am Spaß. Und die Jüngsten lernten dabei gleich noch etwas über die Geschichte ihrer Heimat.Die Fensterstürze gehören allerdings in den Schulen ohnehin zum festen Bestandteil des Geschichtsunterrichts. Der zweite Prager Fenstersturz erlangte deshalb Berühmtheit, weil er den Dreißigjährigen Krieg auslöste. Der dritte Prager Fenstersturz fällt in die neuere Geschichte. Am 10. März 1948, kurz nach der Machtergreifung durch die Kommunisten, fand man den damaligen Außenminister und Sohn des tschechoslowakischen Staatsgründers Tomas G. Masaryk, Jan Masaryk, tot unterhalb des Fensters seines Büros im Cernin-Palais. Die Kommunisten verbreiteten seinerzeit die Nachricht, Masaryk habe Selbstmord begangen. Bis heute ist das aber ungeklärt. Vor einigen Jahren äußerten Experten die Ansicht, dass der nichtkommunistische Außenminister Opfer des Geheimdienstes geworden sei.Hans-Jörg SchmidtENDE
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