Tschechien

Kleiner Bruder gegen großen Bruder

Neujahr 2009. Es ist anderthalb Stunden nach Mitternacht, als der slowakische Premierminister Robert Fico triumphierend sein erstes Bündel Euro in die Fernsehkameras schwenkt, das er soeben am Geldautomaten des Parlaments in Bratislava abgehoben hat. Fast zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution 1989 wird die Slowakei als erstes ehemals postkommunistisches Land in Mitteleuropa in den elitären Klub der Euro-Länder aufgenommen. Und der Zeitpunkt konnte nicht besser gewählt sein. Während sich die Währungen der Nachbarländer Ungarn, Polen und Tschechien aufgrund der Finanzkrise auf Talfahrt befinden, wird das kleine Land unterhalb der Tatra vom Euro-Anker gehalten.

Nirgendwo wurde die Einführung des Euro in der Slowakei so aufmerksam verfolgt wie in Tschechien. Kein Wunder, beide Volkswirtschaften waren bis 1992 in der gemeinsamen Tschechoslowakei verbunden. Wie die Kommentare auch ausfielen, in einem herrschte Einigkeit. „Die Entwicklung in der Slowakei kann zum Muster werden, wie eine Euro-Einführung in Tschechien wirken würde.“ Das waren ganz neue Töne. Denn bis zu diesem Zeitpunkt war es eher Tschechien, das von westlichen Investitionsberatern stärker empfohlen wurde.

Als die Tschechoslowakei 1948 zur Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (CSSR) wurde, war Böhmen und Mähren stärker industrialisiert als die vorher eher landwirtschaftlich ausgerichtete Slowakei. Nach den 1950er Jahren baute man dort vor allem Maschinenbau-, Stahl-, Chemie- und Rüstungsbetriebe auf, damit sich die Unterschiede im industriellen Bereich ausgleichen. Im Gegenzug flossen beachtliche Investitionen aus der Slowakei in die gemeinsame Hauptstadt Prag.„Im Sozialismus ist etwas gelungen, was nicht einmal in Italien geklappt hat: dass beide Volkswirtschaften angeglichen wurden“, erinnert sich der Wirtschaftsprofessor Jan Svejnar.

„1989 waren sich Tschechien und die Slowakei wirtschaftlich näher als je zuvor in der gemeinsamen Geschichte“, so seine überraschende Einschätzung. Der gebürtige Tscheche war nach der Niederschlagung des Prager Frühlings mit seinen Eltern in den Westen emigriert und lehrt heute an der Universität in Michigan. Als das kommunistische System 1989 zusammenbrach, kehrte er sofort zurück und legte einen Plan zur Privatisierung der Volkswirtschaft vor. Seitdem gilt er als einer der Väter der „Kupon-Privatisierung“, durch die jeder Einwohner einen Anteil am Volksvermögen erhielt und die Anfang der 1990er Jahre für Aufsehen sorgte. Denn anders als in Russland oder Polen verlief der Übergang von der zentralen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft in der Tschechoslowakei verhältnismäßig glatt.

Svejnar hat als früherer Berater von Präsident Vaclav Havel die Entwicklung seit 1989 beobachtet und mitgeprägt. Ausgerechnet Havel sorgte nach seinem Amtsantritt für eine deutliche Schwächung der slowakischen Wirtschaft und Steigerung der Arbeitslosigkeit. Als überzeugter Pazifist ordnete er die Schließung der Rüstungsbetriebe an. Diese Initiative hatte allerdings einen Haken: Von der Entscheidung waren vor allem die slowakischen Werke betroffen, während diese Industrie in Tschechien bis heute eine bedeutende Rolle spielt.

Auf die Staatstrennung hatten aber weder Havel noch Svejnar einen Einfluss. Es handelte es sich um eine rein politische Entscheidung der späteren Premierminister Vladimir Meciar und Vaclav Klaus, der nicht einmal eine Volksabstimmung zugrunde lag. Ab 1. Januar 1993 gingen beide Staaten getrennte Wege. „Aus rein wirtschaftlicher Sicht gab es keinen Grund für die Auflösung der Tschechoslowakei. Ich appellierte also, die zwei sich ergänzenden Teile nicht auseinander zu reißen, und sich lieber der Lösung der politischen Fragen zu widmen“, blickt Svejnar zurück.

Immerhin wurde die Trennung durch die starken Förderationsgesetze von 1968 erleichtert. Auf dieser Basis konnten sich beide Staaten lange vor dem Beitritt zur Europäischen Union auf eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit einigen. Sie umfasste unter anderem eine Zollunion sowie den erleichterten Zugang zu Universitäten und Arbeitsmarkt für die Bevölkerung des Nachbarlandes. Die Folge war, dass bis heute die gemeinsame Handelsbilanz im Vergleich zu anderen Staaten überproportional hoch ist. Nur mit Deutschland treiben beide Länder mehr Handel.

Trotz der Gemeinsamkeiten befanden sich beide Staaten fortan in einem Fernduell, das zunächst klar die Tschechen gewannen. Während das Land mit liberal geprägten Reformen zum Musterschüler der Transformation aufstieg, schoss die Arbeitslosenrate in der Slowakei auf das Doppelte des Wertes in Tschechien. Die Sozialausgaben wurden eine immer höhere Belastung für den Staatshaushalt. Gemeinsam mit Polen und Ungarn klopften die Tschechen unüberhörbar an die Pforte der Europäischen Union, während sich die Slowakei unter ihrem autokratischen Premierminister Vladimir Meciar als Wackelkandidat in der zweiten Erweiterungsrunde wieder fand.

Letztlich wurde Meciar in der Slowakei abgewählt und beide Länder traten der Europäischen Union gemeinsam bei.Die Rollen tauschten sie allerdings schon vor dem Beitritt. Die Slowakei verabschiedete sich von ihrer Sozialpolitik und legte ein liberales Reformprogramm auf. Mit Haushaltsdisziplin wurde der Grundstein für die Euro-Einführung gelegt und mit einem niedrigen Einheitssteuersatz das Investitionsklima deutlich verbessert. Auch Tschechien senkte zwar die Körperschaftssteuern. Aber immer neue Sozialgeschenke trieben das Staatsdefizit trotz robusten Wachstums in schwindelerregende Höhen und die Euro-Einführung in immer weitere Ferne. Dagegen hält die Slowakei bis heute ihre Finanzen streng in Ordnung. Sie konnte sich in der aktuellen Krise sogar als einziges Land in Osteuropa eine Abwrackprämie gönnen.


Skoda ist die wohl bekannteste tschechische Automarke. Foto: Björn Steinz

Der Konkurrenzkampf der ehemaligen Bruderländer hat beiden jedoch gut getan. In der Zeit der Krise stehen sie besser da als andere Transformationsstaaten. Einen großen Anteil an den positiven Wirtschaftszahlen der letzten Jahre haben die Automobilindustrie und ihre Zulieferer. Sie bilden in beiden Ländern mehr als ein Drittel des Produktionsvolumens. Die Slowakei steht in der Autoerzeugung pro Kopf weltweit an der Spitze, direkt danach folgt Tschechien. Die Konzentration auf einen Industriezweig hat allerdings ihre Nachteile, wie der aktuelle Einbruch der Autoverkäufe zeigte. „Vorübergehend hat uns die Autoindustrie sehr geholfen, sie brachte neue Arbeitsplätze und relativ hohe Gehälter“, hebt Švejnar  hervor.

Er empfiehlt zugleich eine strategische Vorgehensweise bei der Planung der Industriebereiche, „damit wir nicht zu sehr nur von einem Industriezweig abhängig sind, der zyklische Eigenschaften hat.“ Trotz erfolgreicher Transformation sind beide Länder laut Svejnar auf die aktuelle Wirtschaftskrise nicht vorbereitet. „Wir haben nicht ausreichend in neue Technologien, Forschung und Entwicklung investiert. Das gilt auch für die Slowakei“, erklärt der 57-Jährige. Denn an einem Bereich ist der Systemwechsel völlig vorbeigegangen: am Bildungssystem.

„Hier geht es immer noch zu sehr um Quantität, die Lehrer werden zu wenig an der Qualität gemessen. Und die Hochschulen erhalten alle das gleiche Geld, egal ob sie gut sind oder nicht. Das ist nichts anderes als eine zentral gelenkte Planwirtschaft“, bemängelt Svejnar, der mit dem amerikanischen Hochschulsystem groß geworden ist. Dabei bekommen die Schüler in Tschechien und der Slowakei durchaus eine solide Allgemeinbildung vermittelt. Die Hochschulen bereiten die Studenten eher auf die Grundlagenforschung vor, die angewandte und damit Geld bringende  Forschung bleibt allerdings auf der Strecke. So ziehen beide Länder bei dem Wettkampf um die besten Gehirne und Technologien gegen westliche Universitäten regelmäßig den Kürzeren.


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