Polen

Umstrittenes Gedenken an den Widerstand von 1944

Die polnische Hauptstadt streitet um das Gedenken an den Warschauer Aufstand vor 65 Jahren(n-ost) – Nur wenige Augenblicke blieben dem 19-jährigen Edmund Baranowski, um am Nachmittag des 1. August 1944 seiner Mutter Lebewohl zu sagen. Der gebürtige Warschauer sollte sich rasch zum Einsatz im Bataillon Miotla (dt: Besen) einfinden. Er und rund 50.000 weitere Kämpfer der polnischen Untergrundarmee Armia Krajowa (AK, Heimatarmee) versuchten, die Hauptstadt von den deutschen Besatzern zu befreien. „Wir waren jung, mutig und wollten kämpfen“, erinnert sich der heute 84-Jährige. Um 17 Uhr am 1. August vor 65 Jahren fielen die ersten Schüsse der Aufständischen auf deutsche Einheiten, der Warschauer Aufstand begann.„Alte Kinder des Glücks“In den ersten Tagen gelangen den Widerstandskämpfern einige Erfolge gegen die anfangs nur 20.000 Soldaten zählende deutsche Kompanie. Sie erlangten die Kontrolle über weite Teile der Altstadt, das zentrale Postgebäude, das Elektrizitätswerk und weitere strategisch wichtige Punkte. Berühmt ist die Schlacht zwischen deutschen und aufständischen Einheiten um Warschaus erstes Hochhaus PAST. Fast drei Wochen lang lieferten sich die Kämpfer des berüchtigten Bataillons Kielinski mit deutschen Schergen einen erbitterten Kampf um den Sitz der hauptstädtischen Telekomunikationsgesellschaft. Beide Seiten erlitten hohe Verluste. Von den 2.000 Kämpfern des polnischen Bataillons kam etwa ein Drittel bei dem Aufstand ums Leben. „Wir sind alte Kinder des Glücks“, kommentiert Andrzej Szamotulski solche Statistiken. Er ist einer der wenigen Dutzend noch heute Lebenden des Kielinski-Bataillons und war 1944 17 Jahre alt. Zusammen mit einer Handvoll weiterer ehemaliger AK-Kämpfer kommt er regelmäßig ins Haus des Verbandes der Warschauer Aufständischen. Sie organisieren die Gräberfürsorge für ihre verstorbenen Kameraden oder besprechen, auf welche Weise sie dem Jahrestag gedenken wollen.Nationalbank lässt Sondermünzen prägen„Früher waren sie nicht gut auf uns zu sprechen“, erinnert sich Szamotulski. Früher, damit meint er die Zeit der Volksrepublik. Denn vor 1989 war der Warschauer Aufstand der Partei „ein Dorn im lebendigen Fleisch“, wie der Warschauer Historiker Wlodzimierz Borodziej in seinem Standardwerk über den Aufstand schreibt. Die Partei hörte nicht gern, dass die AK-Soldaten am 2. Oktober kapitulieren mussten, weil die Rote Armee nicht zu Hilfe kam, obwohl sie bereits wenige Kilometer östlich vor Warschau stand. Umso heroischer wurde die Erinnerung im Privaten gehegt, die seit der politischen Wende zu Beginn der 1990er Jahre zunächst öffentlich abgehalten und seit wenigen Jahren nun auch politisiert wird. Seit Jahren wachsen in den Buchhandlungen die Regale mit Neuerscheinungen über den Warschauer Aufstand. Schulen im ganzen Land tragen die Namen der berühmten Anführer und HipHop-Künstler lassen sich von ihrem Schicksal zu Liedern inspirieren. In diesem Jahr ergänzen das 63-tägige Festprogramm zur Erinnerung an den Aufstand ein Fußballturnier mit Mannschaften aus Ländern, die sich im Zweiten Weltkrieg an den Fronten begegneten, und Zloty-Sonderprägungen der polnischen Nationalbank.Über 500.000 Flugblätter mit der Darstellung eines jugendlichen AK-Soldaten samt Sturmgewehr über der Schulter liegen in der Stadt aus. „Pamietaj bitwa o Polske“ („Erinnere dich an die Schlacht um Polen“), mit diesem Slogan fordern das Institut für Nationales Gedenken und das Festkomitee die Warschauer dazu auf, zur „Stunde W“ (W steht im Polnischen für „wybuch“, zu Deutsch: Ausbruch) eine Schweigeminute einzulegen. Während im Stadtinneren um 17 Uhr die Sirenen heulen und der Verkehr für einige Augenblicke zum Erliegen kommt, treffen sich die Überlebenden des Aufstands seit Jahrzehnten auf dem berühmten Warschauer Friedhof Powazki, um an den Gräbern ihrer gefallenen Kameraden zu trauern und ihnen zu gedenken.
Eine halbe Million Flyer wurden in der Stadt verteilt, um an die Schweigeminute Anfang August zu erinnern. Foto: Markus Nowak
 Wahlkampf am AufstandsdenkmalSpätestens, seit der damalige Warschauer Bürgermeister und heutige Staatschef Lech Kaczynski den Gedenktag am 1. August 2004 de facto zu einem staatlichen Feiertag erhob, wurde der Jahrestag politisch instrumentalisiert. Immer mehr vermeintlich staatstragende Personen legten am Gloria-Victis-Denkmal auf dem Friedhof Kränze für Gefallene nieder. Für die Aufständischen und ihre Familien blieb auf dem Friedhof immer weniger Raum. Im vergangenen Jahr eskalierte das Gedenken am 1. August: Als der ehemalige Außenminister Wladyslaw Bartoszewski vor dem Denkmal erschien, wurde er von den Aufständischen ausgepfiffen – obwohl er selbst einer der Kämpfer war. Die als Wähler der nationalkonservativ geltenden Oppositionspartei PiS geltenden Aufständischen nahmen ihm übel, dass er sich als Berater der Regierung der liberalen Bürgerplattform einspannen ließ.Die Eskalation am Gottesacker veranlasste die von den Liberalen geführte Warschauer Stadtverwaltung zu der Forderung, das Gedenken am Gloria-Victis-Denkmal zu „entpolitisieren“. Sie stützte sich dabei auf einen Brief der Aufständischen, die die Sicherheitsvorkehrungen der Politiker und die Kamerateams auf dem Friedhof in den vergangenen Jahren als störend empfunden hatten. Postwendend antwortete das Präsidialamt, Kaczynski lasse es sich nicht nehmen, als Staatschef dem Akt beizuwohnen – zumal sein Vater 1944 in den Reihen der AK gekämpft habe und er selbst auf Bitte der Aufständischen teilnehme. Er lud zudem Regierungs- und Oppositionsvertreter auf den Gottesacker ein. Seitdem füllen polnische Medien die nachrichtenflauen Sommermonaten mit der Debatte, wer auf dem Friedhof erscheinen darf und wer nicht. Der ehemalige Soldat im Bataillon Kielinski, Andrzej Szamotulskim schüttelt darüber nur den Kopf. Er wird am Gedenktag Blumen vor eine der Erinnerungstafeln stellen, die zu Hunderten im Stadtzentrum hängen. Mit den 50 Überlebenden seines früheren Truppenverbandes wird er schon einen Tag vor dem 1. August der Stunde „W“ gedenken.INFOKASTEN:
Der Warschauer Aufstand
Der Warschauer Aufstand begann am 1. August 1944 und dauerte 63 Tage. Nach der Niederlage und Kapitulation der polnischen Verbände wurde die Stadt dem Erdboden gleichgemacht. Etwa 80 Prozent der Stadt wurde dabei zerstört. Auf Grund der massiven Zerstörung wurde im Nachkriegspolen erwogen, die Hauptstadt an einen anderen Ort zu verlegen. Die Altstadt wurde weitgehend rekonstruiert. In den Straßen und an Häuserwänden, wo es zu Hinrichtungen oder erbitterten Kämpfen kam, erinnern heute Schilder an die Geschehnisse.Markus Nowak
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