Rock'n Roll in Nagorny Karabach
Groß und mächtig erhebt sich das moderne Kulturzentrum „Charles Aznavour“ inmitten von Stepanakert, der Hauptstadt Nagorny Karabachs. Es ist Nacht. Wütend bearbeitet Gagik Arakelijan seine E-Gitarre. „Früher haben die Leute hier immer gern Rockmusik gehört. Aber nach dem Krieg herrschte plötzlich nur noch Stille. Man bekam keine Musikzeitschriften mehr, keinerlei Informationen, was los ist in der Rockszene draußen.“
Die Spuren des Krieges
Draußen - damit meint Gagik die Welt hinter den Bergen. Vor 15 Jahren ging der Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien, um die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Kaukasus-Enklave Nagorny Karabach zu Ende. Seitdem herrscht Waffenstillstand. Die Kulturszene in der Region hat sich von den über 35.000 Toten noch immer nicht erholt. „Viele Musiker wurden verletzt, getötet oder sind seitdem verschollen. Andere haben nie wieder ein Instrument in die Hand genommen.“
Artur spielte damals Akustik-Gitarre in einer der sieben Rockbands. „Unser Probenraum befand sich neben einer Kaserne der russischen Truppen. Von dort riefen die Soldaten: Hört auf mit dem Geklimpere, versteckt euch. Gleich wird Stepanakert bombardiert. Die Russen sind abgehauen, wir sind geblieben und haben einfach weiter geprobt. Wo sollten wir auch hin? Wir hier sind der Rest einer einst lebendigen Rockmusikszene.“ Sieben Musiker haben sich in den Probenraum des Kulturzentrums verirrt, für das reiche Diaspora-Armenier viel Geld gespendet haben. Auch Namensgeber Charles Aznavour, der heute Armeniens Botschafter in der Schweiz ist.
Wer durch Stepanakerts gepflegte Straßen läuft, vermisst Clubs und Konzert-Plakate. Vielleicht fallen deshalb kleine Zeichen des Protestes doppelt auf: „I love Emo“ steht in kleinen schwarz-bunten Graffitis an der Treppe zu einem von kunstvollen Statuen gesäumten Boulevard. Der führt zu einem rekonstruierten Stadion, in dem die Regierung Massenhochzeiten organisiert, 700 Paare auf einmal. Heiratswillige, die in der Stadt wohnen, erhalten 1.000 Dollar, junge Familien auf dem Land eine Kuh. Finanziert wird das Ganze von einem reichen Auslandsarmenier.
Verbindung zu den "kulturellen Strömen der Welt"
Die Graffiti-Künstlerinnen sind gerade einmal sechzehn Jahre alt, heißen Marian und Diana und haben sich die Haare wie ihre Idole Bill und Tom Kaulitz frisiert. Um die Texte von Tokio-Hotel zu verstehen, haben sie etwas Deutsch gelernt. „Wir haben keine Möglichkeiten die Zeit zu verbringen. Wir haben keine Disco. Spazieren, dass ist alles, was wir machen können“, sagt Marian. „Eine Jugendkultur wie in Deutschland? In Karabach?" Die beiden schütteln die Köpfe. Zu konservativ sei hier die Gesellschaft.
In einem leeren Büro sitzt Karine Agabalian. Die Kulturministerin wird umziehen, hinauf in die Stadt Shushi, die wie eine Festung über Stepanakert thront. Ihr Mann ist gefallen. Nun ist die Mutter zweier Kinder Witwe, so wie viele Frauen hier. Karine Agabalians Liebe gilt nun den Künstlern Karabachs.
„Ich möchte“, sagt die kleine, schmale Frau „die Kulturschaffenden wieder mit den kulturellen Strömungen der Welt verbinden.“ Doch solange Nagorny Karabach nicht einmal in die UNPO, die 57 Mitglieder zählende „Organisation der nicht repräsentierten Nationen und Völker“ aufgenommen wird, sind die Karabacher von jedem internationalen Kulturaustausch so gut wie ausgeschlossen. Und das hat Folgen: „Ohne Mäzenaten aus der armenischen Diaspora gäbe es viele Chöre und Folklore-Gruppen nicht und auch die Gehälter unseres Kammerorchesters werden von der Diaspora bezahlt. Aber wir tun, was wir können, um die Kulturszene über das Staatsbudget zu entwickeln.“
Es fehlt an Kulturförderung
Wie ein Patient auf der Intensiv-Station hängt die Kulturszene Karabachs am Tropf einer offiziell nicht existierenden Republik, deren Budget zu 90 Prozent aus dem völlig überschuldeten armenischen Staatshaushalt finanziert wird. An die Förderung einer nichtstaatlichen freien Kulturszene, wagt unter solchen Umständen niemand zu denken, meint Rockgitarrist Gagik. Als freier Künstler sein Geld verdienen? Er lacht. „Das kann nur, wer auf großen Hochzeiten spielt. Aber das ist für mich keine Musik. Nein, das monatliche Einkommen unserer Kunstschaffenden reicht nicht aus, um davon leben zu können. Wir hier sind alle Staatsmusiker bei Gos-Estrad.“
Gost-Estrad. Das heißt übersetzt „Staatliches Estraden-Orchester“. In ihm hat die Regierung zusammen gefasst, was von der Musikszene Karabachs noch übrig ist. Jedes Konzert, jeder Chor, jede Ausstellung ist staatlich finanziert. Auf die Frage, ob sie damit auch staatlich kontrolliert ist, sagt Gagik lieber nichts und eilt mit seiner Band zu einer jener Shows, die anmuten wie die DDR-Fernsehrevue „Ein Kessel Buntes“ ohne internationale Beteiligung. Die Künstler geben sich alle Mühe, den abgeschotteten Bürgern wenigstens etwas internationales Flair zu bieten. Freude macht es ihnen nicht…