Das Gefühl, nach Hause zu kommen
„In der Sowjetunion“, sagt Alexander Demidov, „wollten alle Internationalisten sein. Ich habe mich nie als Internationalist gefühlt, ich habe mein Leben einfach in verschiedenen Ländern verbracht.“ Sein Leben ist eine verworrene Geschichte. Eine, die er selber größtenteils nur aus zweiter Hand kenne, von einer Historikerin, die die Lebensgeschichte seiner Familie erforscht habe.Alexander Demidovs Vorfahren waren Berater des russischen Zaren, besaßen Ländereien, Güter, Privilegien – und mussten als Gegner der Revolution das Land verlassen.
Ein Bruder setzte sich nach Venezuela ab, einer nach Jugoslawien. Wo die Schwester abgeblieben sei, sei unbekannt. Alexander Demidovs Vater verschlug es nach Belgien, wo ihm ein Job als Farmverwalter angeboten wurde, in der überseeischen Kolonie Belgisch-Kongo.1933 zeugte er dort mit einer Kongolesin einen Sohn, dem er seinen Namen gab – Alexander Alexandrowitsch Demidov. Sechs Jahre später kaufte er der Mutter den Jungen für eine Nähmaschine ab und nahm ihn mit nach Paris, um ihm eine französische Eliteerziehung angedeihen zu lassen.
Doch nach wenigen Monaten in Frankreich starb der Vater, Alexander wurde zum Onkel nach Jugoslawien geschickt, wo er bis Anfang 1941 die Schule besuchte.Wie sein Vater aussah – daran habe er keine Erinnerung mehr. Auch nicht an sein Leben in Belgrad. Das einzige, was er noch wisse: dass er Mitte jenes Jahres in ein Arbeitslager in Wolfsburg gebracht worden sei. Wie, daran könne er sich nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich hätten ihn deutsche Truppen mitgenommen, sagt er. Aus dem Lager konnte er fliehen, denn seine Angst vor den Bomben war größer als die vor Bestrafung, und so ergriff er während des nächsten Fliegeralarms die Flucht.Unterwegs wurde er von einem Uniformierten aufgegriffen, der ihn festhielt und einer Bauernfamilie im Kreis Gardelegen (heute: Altmarkkreis Salzwedel) als Landwirtschaftshelfer übergab.
Die Jahre bei den Bauern, sagt Alexander Demidov – „das war eine gute Zeit.“ Es habe genug zu essen gegeben, und im Sommer sei er mit Helmut, einem deutschen Jungen, zum Baden gefahren. „Helmut war ein Freund. Mein erster richtiger Freund.“Dann hörte er von russischen Zwangsarbeitern aus der Umgebung, dass die Amerikaner vorrückten und gleichzeitig die Russen auf der anderen Seite der Elbe stünden. 'Nicht noch einmal die Amerikaner', sagte er sich, und versuchte, mit einem Boot auf die andere Seite zu gelangen. In der Mitte des Flusses wurde er von einem Trupp GIs gestoppt: „Junge, was willst du da drüben? Da essen die Leute Gras.“ Doch als sie sahen, wie entschlossen Alexander war, ließen sie ihn ziehen. Auf der anderen Seite steckte man ihn in ein – wie er es nennt – „Internat für russische Soldatenkinder.“
Dann erging der Befehl, die Bewohner in Kinderheime nach Belarus zu verlegen.Am 4. April 1946 traf Alexander Demidov im Waisenhaus Nummer 12 in Minsk ein; ein 13-jähriger, der vier Sprachen beherrschte und sich freute, ab jetzt regelmäßig zur Schule gehen zu können. „Ich wurde oft gefragt, ob es nicht schrecklich sei, in einem Heim aufzuwachsen,“ erzählt er. „Wir haben nicht weniger Liebe bekommen als in einer Familie. Und man hat uns zu fleißigen, verantwortungsvollen Menschen erzogen.“ Nach der Schule nahm er einen Job bei der Eisenbahn an und fuhr durch die ganze Republik, um Gleise zu verlegen und Schienen auszubessern.Auf der Eisenbahnbrücke in der Nähe seines Wohnblocks traf er eine Frau, die ihm gefiel, und er hielt bei den Eltern um ihre Hand an.
Dass er eine dunkle Haut hatte, hätte sie nicht gestört. Im Gegenteil: In Belarus sei das damals etwas Aufregend-exotisches gewesen. Nein, Probleme mit seiner Hautfarbe habe er nur ein einziges Mal gehabt: In Jugoslawien, als die Deutschen einmarschiert wären und ihn als „Neger“ beschimpft hätten.
Alexander Demidov / Andrej Krementschouk, n-ost
Heute lebt der 76-Jährige mit Frau, Tochter und Enkel in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im Minsker Oktober-Bezirk. Außerdem gibt es noch einen Sohn, zwei weitere Enkel und einen Urenkel. Ihr Einkommen ist knapp: 500.000 Rubel Pension bezieht Alexander Demidov, etwa 140 Euro, „Geld, von dem man nicht leben kann,“ sagt er.2002 erfuhr er bei einem Besuch in der Stadtverwaltung, dass Deutschland Entschädigung an ehemalige Zwangsarbeiter zahle. Beim Ausfüllen des Antrags half ihm der KGB – der Geheimdienst, der in Weißrussland bis heute noch so heißt. „Die haben gesagt, ich könne unmöglich Geld für sechs Jahre fordern,“ erzählt Alexander Demidov. „Ich denke, sie haben mir nicht geglaubt, dass ich so lange da arbeiten musste.
Ich war ja noch ein Kind.“Nein, er habe keinen Hass auf die Deutschen, es sei einfach Krieg gewesen damals, und heute – heute sei Deutschland ein kultiviertes Land. Drei Mal sei er in den vergangenen Jahren dorthin gereist, auf Einladung von, „ach, irgend so einer deutschen Organisation.“ Beim letzten Besuch fuhren ihn seine Gastgeber in das Dorf, in dem er als Kind auf dem Bauernhof hatte arbeiten müssen. Als er vor seiner ehemaligen Unterkunft stand, rief plötzlich jemand seinen Namen: „Alexander! Dass du hier bist – ein Wunder!“ Und Helmut, sein erster Freund, fiel ihm nach über 60 Jahren um den Hals. „Es mag seltsam klingen“, sagt Alexander Demidov, „aber in diesem Moment hatte ich das Gefühl, nach zu Hause kommen.“