Polen

Auch Polen hat Ossis

„Die Schienen verlaufen entlang der Straße, auf der Fahrradfahrer schneller unterwegs sind als der Zug.“ So beschreibt eine Reisende ihre Erlebnisse auf dem zweiten Teil der Bahnstrecke von Krakau zum ostpolnischen Zamosc. „Leider muss man sagen, es gibt ein Polen A und ein Polen B“, konstatiert sie. Was die Journalistin da umreißt, ist die innere Teilung Polens zwischen den Gebieten westlich und östlich des polnischen Hauptflusses, der Weichsel.

Heute werden fünf von 16 polnischen Verwaltungsgebieten zum Osten Polens gezählt – und damit zugleich zu „Polen B“. Es sind die Wojewodschaften Świętokrzyskie, Podlaskie, Warmińsko-Mazurskie, Lubelskie und Podkarpackie. In diesem Gebiet, das knapp ein Drittel der Gesamtfläche des Landes umfasst, leben mit über acht Millionen Einwohnern 21 Prozent der polnischen Bevölkerung. Allerdings mit fallender Tendenz, weil überdurchschnittlich viele, vor allem junge Polen, von dort wegziehen. Die meisten sehen sich mit zu vielen Problemen konfrontiert: einer unproduktiven Landwirtschaft, miserabler Infrastruktur, wenig Unternehmertum, geringer Urbanisierung. Und während das BIP pro Einwohner in Gesamtpolen bereits im Jahr 2005 die Hälfte des EU-25-Durchschnitts erreicht hatte, lag es in den östlichen Regionen Polens offiziell bei 31 bis 35 Prozent.

Die Ursachen für diese Rückständigkeit reichen weit zurück – bis in die Zeit der polnischen Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts (siehe Hintergrund). In den vergangenen 20 Jahren seit der politischen Wende konnten zwar einige Ungleichheiten abgemildert werden, aber im Großen und Ganzen ist die innerpolnische Teilung geblieben – und hat sich mitunter sogar verschärft. Zugleich ist es durch den Fall des Eisernen Vorhangs und den später folgenden EU-Beitritt Polens überhaupt erst möglich geworden, die Lebensverhältnisse in Polen sowie im Vergleich zu anderen EU-Ländern einander anzugleichen.

Die vielschichtigen Transformationsprozesse seit 1989 sorgen dafür, dass negative und positive Entwicklungen, vor allem in Ostpolen, ineinander greifen. Viele Nachteile scheinen sich nach und nach zum Vorteil, zu einer Chance auszuwachsen.So sind Menschen aus diesen östlichen Regionen zwar beispielsweise deutlich stärker von Armut betroffen, weil diese stärker als andere Regionen Polens landwirtschaftlich geprägt sind – im Gegensatz zu Ländern Westeuropas, wo Armut sich vor allem in (Groß-)Städten konzentriert. Um jedoch diese Armutsunterschiede zu mildern, haben das Land sowie die EU mehrere Förderprogramme auf verschiedenen Ebenen aufgelegt.

„Das waren zum Teil rettende Investitionen, denn so konnten etwa Krankenhäuser modernisiert werden“, sagt der Soziologe Dariusz Wojakowski von der Universität Rzeszów in der Ost-Region Podkarpackie. Unter anderem dadurch seien die meisten Europa-Skeptiker der Region in den letzten fünf Jahren verstummt, glaubt der Forscher.Auch das Thema Migration hat in Ostpolen zwei Seiten. Das Durchschnittsalter in Ostpolen wächst im Vergleich zu Rest-Polen überproportional, weil vor allem Menschen im Alter zwischen 20 und 44 Jahren in die Hauptstadtregion Mazowsze oder, seit 2004, in nördlich gelegene EU-Staaten ziehen.

Einige Regionen sind regelrecht von jungen Menschen entvölkert. Viele Kinder bleiben längere Zeit bei ihren Großeltern, weil ihre Eltern im Ausland Geld verdienen. Der Soziologe Wojakowski glaubt gleichwohl, dass die Migranten mittelfristig nicht nur, wie gegenwärtig, Geld für den Konsum in die Region bringen. „Viele Rückkehrer kommen mit einer anderen Einstellung zur Arbeit wieder. Man kann erwarten, dass etliche von ihnen ihre Ankündigungen wahr machen und eigene Unternehmen gründen.“Die geringe wirtschaftliche Entwicklung könnte sich ebenso als Katalysator entwickeln. Derzeit zeichnen sich lokale Unternehmen durch eine geringe Innovationsfähigkeit aus, ausländisches Kapital verirrt sich selten nach Ostpolen – und wenn, dann sind es zumeist verlängerte Werkbänke großer Unternehmen, die vor allem auf die niedrigen Arbeitskosten setzen.

Gleichwohl dürfe man nicht einfach blind industrialisieren, sondern die einzelnen Regionen müssten auf ihr eigenes Potenzial setzen, sagt der Ökonom Przemyslaw Susmarski, der an dem Forschungsinstitut für Marktwirtschaft in Gdansk die polnischen Regionen und die europäische Integration untersucht.Susmarski spricht von Agro-Tourismus und Dienstleistungen – in einigen Ost-Regionen gibt es das bereits. So gründete die Wojewodschaft Podkarpackie die Sonderwirtschaftszone Europark Mielec, die sich in den 14 Jahren ihres Bestehens als das polnische „Tal der Luftfahrt“ positioniert hat.

Fast 50 polnische und internationale Unternehmen der Branche sind dort mittlerweile aktiv, im Mai 2009 hat der deutsche Hersteller von Flugzeugkomponenten MTU dort eine Fabrik eröffnet. MTU und den anderen Firmen geht es dabei nicht hauptsächlich um die niedrigen Arbeitskosten, sondern vor allem um das Know-How und die Netzwerke, die bewusst in die Region gelockt wurden. „Das hat in jedem Fall eine positive Ausstrahlung auf die Region. So entwickelt sich etwa die technische Universität von Rzeszów prächtig, in der die künftigen Kader der Branche ausgebildet werden“, sagt Soziologe Wojakowski.

Weiteres Entwicklungspotenzial der östlichen Regionen liegt noch brach – am offensichtlichsten im Tourismus. Viele Wojewodschaften verfügen über viel unberührte Natur: Die Seen in den Masuren sind seit Jahrzehnten ein Mekka für polnische Segelfans, das Podkarpackie lockt mit dem unberührten Bieszczady-Gebirge, und im Podlaskie gibt es den einzigen erhaltenen Urwald Europas. Polnische und ausländische Besucher schätzen vor allem das Unfertige, Unerschlossene dieser Regionen. Doch wohl genauso viele potenzielle Touristen werden von mangelhaften Straßen und dürftiger Hotelinfrastruktur abgeschreckt. Und noch viel mehr wissen gar nicht, dass es diese touristischen Perlen überhaupt gibt.

Augenscheinlich wissen aber viele Einheimische, was sie an ihrer Region haben. Denn eine repräsentative Umfrage aus dem Jahr 2008 zeigte, dass ihre Zufriedenheit mit einzelnen Aspekten des Lebens wie etwa mit der beruflichen und materiellen Situation nicht deutlich hinter wirtschaftlich stärkeren Regionen Polens zurücksteht. Soziologe Wojakowski erklärt dies so: „Zum einen messen die Menschen ihre Zufriedenheit nicht nur an Wirtschaft – man sagt nicht zu Unrecht, dass ärmere Menschen häufig glücklicher sind.“Die anderen Gründe lägen aber darin, dass in den östlichen Regionen Schwarzarbeit viel mehr ausgebreitet sei und zudem bei vielen Statistiken die Geldtransfers der Migranten nicht gezählt würden.

Und: „Wenn ich durch Polen fahre, dann sehe ich in Westpolen teilweise viel ärmere Regionen als bei uns im Osten“, sagt Wojakowski. Wichtig für die allgemeine Zufriedenheit sei aber noch eines, findet der Soziologe: „Jemand, der die schwierige Situation vor 1989 erlebt hat, den haut selbst eine Krise wie die jetzige nicht so schnell um.“

HINTERGRUND:
Ursachen des Ungleichgewichts

Ab 1795 bis 1918, während der Nicht-Existenz eines unabhängigen polnischen Staates, entwickelten sich die Regionen ähnlich wie die Staaten, von denen sie besetzt waren: Russland, Österreich und Preußen, später das Deutsche Reich.
Während die russischen und österreichischen Teile – Ost-, Zentral- und Südost-Polen – eine langsamere Entwicklung nahmen, mit wenig Industrialisierung und Urbanisierung, entwickelten sich die preußisch besetzten Gebiete bis auf den Nordosten Polens deutlich stärker, etwa das oberschlesische Industriegebiet, die Region um Gdańsk, oder der Westen Polens mit der Stadt Poznań.

Die innerhalb von mehr als einem Jahrhundert entstandenen Unterschiede konnten auch nach dem Wiedererlangen der Unabhängigkeit Polens 1918 nicht beseitigt werden, sondern haben sich noch weiter vertieft. Auch in der Zeit nach 1945, als ein Großteil des polnischen Ostens an die Sowjetunion verloren ging.


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