Tadschikistan

Zerrissenheit und Zusammenhalt

Im Ort Wachdat, 20 Kilometer von der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe entfernt, herrscht reges Treiben. Wie an jedem Wochenende von Beginn des Sommers bis tief in den Winter hinein wird dort eine Hochzeit gefeiert. In dem kleinen Lehmhaus von Familie Abduraschidow laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Kleider für die Mitgift der Braut werden genäht, im Hof riesige Mengen Hammelfleischsuppe und die Reispfanne Osch zubereitet, die als Inbegriff von gutem Essen gilt. Damit sich die Festtafel später unter der Last der Vielfalt biegt, wird jede helfende Hand gebraucht. Verwandte wie Nachbarn sind zur Stelle. Deikir und Alischer Abduraschidow, zwei ältere Brüder der Braut, garen in einem riesigen Kessel duftende Fleischbrocken und Kartoffeln. Sie sind erst vor wenigen Wochen mit dem Zug aus Moskau zurückgekehrt. Die von ihnen mitgebrachten, mühsam auf russischen Baustellen erwirtschafteten Ersparnisse bilden die finanzielle Grundlage für die Feier.

„Seit sechs, sieben Jahren fahren wir jede Saison nach Russland, vielleicht auch schon länger“, berichtet Alischer und zieht seine Kappe über dem dunklen Haar zurecht. Wie die meisten gastarbaitery – die mit einem deutschen Lehnwort bezeichneten Arbeitsmigranten – arbeiten sie dort in ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen. Viele besitzen zudem keine Arbeitserlaubnis. Sie sind damit der Willkür der meist privaten Arbeitgeber und der Bürokratie ausgesetzt. Im schlimmsten Fall droht ihnen die Deportation samt eines mehrjährigen Einreiseverbots. Alischer sieht das jedoch gelassen. Obwohl er vor der Ausreise nie wisse, wo er arbeiten werde, ergäben sich immer Möglichkeiten. „Wenn einer unserer Auftraggeber keine Verwendung für uns hat, finden wir über seine Beziehungen irgendwo etwas anderes.“

Meist sind das gering bezahlte Knochenjobs auf dem Bau oder Basaren, die kaum ein Russe freiwillig machen würde. Für tadschikische Verhältnisse aber sind Einkommen von umgerechnet 300 bis 400 Euro monatlich Spitzenlöhne. „Wir mieten ein Zimmer, leben dort zu siebt oder wohnen direkt auf der Baustelle mit anderen Leuten – Verwandten oder Nachbarn – aus unserem Dorf zusammen. Alle helfen einander“, erklärt der 25-jährige Deikir. Auf diese Weise können die Männer sich auch in der Ferne auf ihre engen sozialen Netzwerke stützen und gleichzeitig möglichst viel Geld an ihre Familie schicken.

Beim Anteil der Rücküberweisungen von Arbeitsmigranten am Brutto-Inlands-Produkt (BIP) belegt Tadschikistan weltweit einen der vorderen Ränge. Nach Angaben der Weltbank wurde im Jahr 2006 die Schwelle von einer Milliarde US-Dollar bei Geldtransfers der gastarbaitery an ihre Familien überschritten und näherte sich der Zwei-Milliarden-Marke an. Dies entsprach über 36 Prozent des tadschikischen BIP. Schätzungen unabhängiger Experten zufolge liegt dieser Wert sogar noch wesentlich höher. Denn nur Beträge, die über Banken und über Money Transfer Operators wie Western Union, die mittlerweile auch in entlegenen Bergdörfern vertreten sind, überwiesen wurden, tauchen überhaupt in den Statistiken auf. Die Gastarbeiter bilden damit das wirtschaftliche Rückgrat der armen Gebirgsrepublik. Dort beträgt die Quote offiziell registrierter Arbeitsloser zwar nur 0,4 Prozent. Diese Zahl verschweigt allerdings das eigentliche Ausmaß der Unterbeschäftigung. Für viele Familien bilden die Übertragungen ihrer Verwandten in Russland daher die wichtigste Quelle ihres Haushaltseinkommens.

Angesichts der abflauenden Weltkonjunktur könnte sich das jedoch bald ändern. Seit die Krise auch die russische Wirtschaft hart getroffen hat, häufen sich Negativszenarien über die Zukunft der zentralasiatischen Arbeitsmigranten und ihrer Herkunftsstaaten. Von Massenentlassungen auf russischen Baustellen ist die Rede, von einem Rückwanderungsstrom in die strukturarmen Heimatländer, wo ein Wachsen der sozialen Spannungen befürchtet wird. Schon melden tadschikische Banken stetig abnehmende Rücküberweisungen seit Ende des Jahres 2008. Die russische Presse und sogar der russische Präsident Dmitri Medwedew warnen vor einem Anstieg der Kriminalität durch arbeitslose Migranten. Zu sehen ist davon allerdings bisher wenig.

Indes häufen sich Überfälle russischer Neonazis auf die dunkelhäutigen Gastarbeiter aus Zentralasien. Tätlichkeiten bis hin zu rassistisch motivierten Morden sind an der Tagesordnung. Laut dem Moskauer Büro für Menschenrechte wurden allein in den ersten zwei Monaten dieses Jahres russlandweit 46 fremdenfeindliche Überfälle mit 16 Todesopfern und 49 Verletzten gemeldet. Die Dunkelziffer könnte noch um ein Mehrfaches höher liegen.

„Es gibt die Gruppe von Skindheads, die jeden zusammenschlagen, der ihnen unterkommt - egal ob Afghane, Chinese oder Kaukasier. An manchen Tagen trauen wir uns nicht mal mehr in die Stadt hinaus“, erzählt auch Alischer von seinen Erfahrungen. Er habe bisher Glück gehabt und es sei bei verbalen Attacken geblieben. Er hege dennoch keinen Groll gegen die Russen. „Es ist – mit wenigen Ausnahmen - ein gutes Volk. Auch die Leute dort leiden unter der schwierigen Situation.“

Dennoch wollen die beiden Brüder vorerst in der Heimat eine Arbeit suchen. „Im Winter ist das hier zwar schwierig. Es gibt keinen Strom, das Leben kommt zum Stillstand“, klagt Deikir. Ihre Familie habe jedoch auf dem kleinen Markt von Wachdat einen Verkaufsstand für Lebensmittel. Auch wenn gerade jetzt, am Anfang des Jahres, viele Bewohner extreme Geldsorgen hätten, könnte man damit etwas dazuverdienen. „Zur Not ist ja die Hauptstadt nicht weit. Es gibt dort Verwandte, die bei der Suche nach einer bezahlten Tätigkeit weiterhelfen. Auch wenn es nur als Lastenträger ist“, fügt Alischer fast lächelnd hinzu, während er das dampfende Fleisch aus der Brühe fischt.

Tadschikistan ist auf die Rückkehr so vieler Gastarbeiter aus Russland nicht vorbereitet. Rehabilitierungsmaßnahmen oder Unterstützung von Seiten des Staates für die Rückkehrer, ob vorübergehend oder permanent, gibt es nicht. Beratung für ehemalige und zukünftige Migranten bieten lediglich internationale und zwischenstaatliche Organisationen wie das dafür eingerichtete Informationszentrum für Arbeitsmigranten der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Duschanbe. „Die Verfallserscheinungen des tadschikischen Bildungssystems seit der Unabhängigkeit bilden nicht nur den Hauptgrund für die Probleme tadschikischer Arbeitsmigranten in der Ferne“, so die IOM-Mitarbeiterin Mehrinisso Pirmatowa, „sondern auch hier im Land.“ Es bestehe wenig Bedarf an ungelernter Arbeitskraft. Der Aufenthalt der Gastarbeiter im Ausland dient für viele auch als Mittel zur beruflichen Qualifizierung und Spezialisierung – das nun vielfach wegbricht.

Wie eng verbunden die Themen Migration und Bildung sind, erschließt sich für Alischers kleine Schwester Firusa von selbst. „Meine Brüder werden immer für unsere Familie sorgen, dafür, dass wir jüngeren studieren können“, sagt sie und schaut über die mit frischen Teigfladen, getrockneten Aprikosen und anderen Leckerbissen überquellende Hochzeitstafel. „Nicht so wie Leute, die nach Moskau gehen und dann ihre Eltern, ihre Verwandten vergessen und kein Geld schicken.“

Die zierliche junge Frau studiert im vierten Jahr Pädagogik in Duschanbe. Sie möchte eine Hochschulausbildung abschließen, um ihrem späteren Ehemann zur Seite zu stehen. „Viele junge Frauen ohne Bildung helfen ihren Schwiegereltern im Haushalt, weil sie sonst keine Beschäftigung finden würden“, glaubt die 20-Jährige. Eine talentierte Frau aber könne doch auch Geld verdienen. Das so schüchtern scheinende Mädchen wirkt plötzlich ganz stark. Sie möchte nicht, dass ihr späterer Ehemann nach Russland geht. „Ich möchte, dass er hier ist bei mir, und wir beide Geld verdienen können. Ich möchte nirgends sonst leben.“ Viele Frauen, die die Hauptlast von Haushaltsführung, Lebenserwerb und Kindererziehung auf ihren Schultern tragen, denken so, aber nur wenige sprechen in der patriarchalischen Gesellschaft Tadschikistans so offen darüber wie Firusa.

Auch über die anderen Probleme, die die massenhafte Migration und die Rückkehr vieler Gastarbeiter mit sich bringen, wird kaum gesprochen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele tadschikische Männer auch in Russland Frauen haben. Dass durch sexuelle Kontakte auch das Risiko für Geschlechtskrankheiten wie AIDS steigt, ist hingegen ein Tabu-Thema. Und auch Scheidungen tadschikischer Männer von ihren Ehefrauen daheim, die häufig sogar per Mobiltelefon vollzogen werden, benachteiligen die betroffenen Frauen. Die meisten muslimischen Geistlichen in Tadschikistan, wo Ehen kaum standesamtlich geschlossen werden, erklären die Scheidung rechtskräftig, wenn der Mann dreimal die Formel „Talak“ („ich verstoße dich“) gesprochen hat. Eine bessere rechtliche Stellung der Frau wird bisher nicht diskutiert.

Die Hochzeit bei Familie Abduraschidow geht indessen schon am Spätnachmittag ihrem Höhepunkt zu. Das letzte milde Tageslicht muss genutzt werden, denn nur wenige Stunden am Tag gibt es Strom. Eine Musikgruppe spielt melancholische und gleichzeitig mitreißende tadschikische und usbekische Lieder, Mädchen und Frauen in langen Gewändern tanzen, Kinder tollen herum. Alischer und Deikir stehen am Rand unter kahlen Mandelbäumen und schauen dem Treiben zu. „Wenn wir hier keine Beschäftigung finden, werden wir gezwungen sein, in wenigen Wochen wieder aufzubrechen.“ Deikirs Worte klingen in dieser gerade so ausgelassenen Umgebung wie bitterer Hohn. Die Familie hat sich trotz der Ersparnisse der Brüder für das Fest verschuldet. Für die Begleichung der Ausstände fehlen bisher die Mittel.

„Ich weine, wenn ich meine Brüder auf dem Flughafen verabschiede, aus Trauer und Sorge um sie. Ich weine aus Freude, wenn wir sie dort empfangen.“ In Firusas Stimme klingt Stolz mit, wenn sie das sagt. Ihre Brüder hätten sich geändert, seit sie nach Russland fahren. Sie seien reifer geworden. „Ich weiß, dass sie bei uns sind, den ganzen Tag an uns denken“, ist sie überzeugt. „Der wichtigste Halt liegt in der Familie, egal ob hier oder in der Ferne.“


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