Der schwere Weg aus dem geschlossenen Kreis
Emília Haluskova spielt auf dem Platz vor dem Frauenhaus in Prag mit ihrem kleinen Sohn. Zwischendurch blickt sie wehmütig auf das fünfstöckige Gebäude. Wörtlich übersetzt heißt das Frauenhaus, auf Tschechisch Dům trénigového bydlení, „Haus des Trainingswohnens“. Es ist eine Einrichtung der Prager Stadtverwaltung, die Frauen mit Kindern und Familien in sozialen Notsituationen hilft. „Hier habe ich gelernt, eine gewisse Ordnung in mein Leben zu bringen und meiner Existenz Halt zu geben“, erinnert sich die 23-jährige Roma an ihren Aufenthalt dort.
Für preiswerte Mieten in der Höhe von 100 bis 200 Euro monatlich können Frauen mit Kindern und bedürftige Familien ein bis zwei Jahre in dem Haus wohnen. Emília lebte dort vom Sommer 2007 bis Dezember 2008. „Ich habe mich hier sehr wohl gefühlt. Ich hatte im Haus immer ein Gefühl der Geborgenheit und Ruhe“, erklärt sie und zeigt auf den Balkon im zweiten Stock. Emília ist Halbroma mit einem Schicksal, das sie härter als viele andere Roma traf. Wenn sie sich an ihre Kindheit erinnert, schießen ihr Tränen in die Augen.
„Ich war etwa 10 Jahre alt, als ich ins Kinderheim kam“, erzählt Emília und reibt sich aufgeregt die Hände. „Der Vater verzichtete auf mich, weil ich das dunkelste Kind aus der Familie war. Obwohl ich drei Geschwister habe, landete ich als einzige im Kinderheim“, sagt die Frau traurig. Aus dem Kinderheim kam Emília in eine Erziehungsanstalt in Liberec, wo man zunächst ihr Verhalten beobachtete. Dort wurde sie von einer Tschechin als Zigeunerin beschimpft, es kam zu einer Schlägerei. „Statt der weißen Frau wurde ich bestraft. Mir hat man nicht geglaubt. Bis heute verstehe ich nicht, wie eine Anstalt wie diese Rassismus zulassen konnte“, ärgert sich die junge Mutter noch heute. Der Weg zurück ins Kinderheim blieb wegen des Vorfalls für sie versperrt und es folgte eine härtere Erziehungsanstalt. „Dort begann ich zu spinnen und wegzulaufen, weil mir meine Familie gefehlt hat. Die Mutter vor allem“, beschreibt Emília ihre schweren Zeiten in der Anstalt.
Die Schicksale der jungen Roma, die im Kinderheim landeten, widersprechen dem allgemeinen Klischee über Roma, dass ihre familiären Bindungen besonders stark seien. „Vor dem Zweiten Weltkrieg haben die Roma in Stämmen gelebt, wobei ein Stamm 50 bis 80 Menschen hatte“, erklärt Mario de Bikaver, Schriftsteller und der Krönungsprinz eines der fünf Zigeunerstämme, dessen Stammgebiet der Tradition nach Nordmähren ist. „Wenn eine Frau mit dem Kind alleine blieb, halfen ihr andere Familien- und Gruppenangehörige. Auch die Großväter und Großmütter unterstützten die junge Familie beim Großziehen des Nachwuchses“, schildert der 45-Jährige die sozialen Gesetze der Zigeuner, die bei den tschechoslowakischen Roma noch in die 70er Jahre des vergangen Jahrhunderts galten. „Ins Kinderheim gab eine Roma ihren Nachwuchs dann, wenn sie zu viele Kinder hatte und keine Kraft fand, sich um das letzte zu kümmern“, begründet der Zigeunerbaron die Tatsache, warum überdurchschnittlich mehr Roma als Gadje (der Roma-Ausdruck für Nicht-Roma) unter den Zöglingen in Kinderheimen waren und immer noch sind.
De Bikaver selber kam kurz nach seiner Geburt ins Kinderheim. „Meine Geburt wurde in der Familie größer als eine Hochzeit gefeiert, dann bekam ich Hirnhautentzündung und meine Eltern brachten mich ins Krankenhaus. Nachdem sie von der Ärztin erfuhren, dass ich danach geistig behindert sein würde, holten sie mich aus dem Krankenzimmer nicht mehr ab. Ich – das kranke Kind – war für meine Eltern ein Stigma, das sie intuitiv zwang, mich nicht wieder in die Familie aufzunehmen“, sagt heute der absolut gesunde Kronprinz. Vom Krankenhaus kam er als Säugling direkt ins Kinderheim.
Bei Mario war es die Krankheit und bei Emília die etwas dunklere Haut, wegen derer sie aus der Roma-Kommune ausgestoßen wurden. Die junge Halbroma weiß, dass in einer traditionellen Roma-Familie Zusammenhalt üblich ist, sie selbst hat ihn allerdings weder bei ihrem Vater, noch bei ihrer weißen Mutter erlebt: „Meinen Eltern habe ich vorgeworfen, dass sie mich immer verstoßen haben. Ich habe Mutter- oder Vaterliebe nie gekannt. Als mein Vater diese Worte hörte, begann er zu weinen“, sagt Emília erregt. Die Tränen des Vaters haben ihr allerdings nicht geholfen. „Nach der Rückkehr aus der Erziehungsanstalt wohnte ich bei meinem Vater. Er war ein sparsamer Mensch und schaltete das warme Wasser immer wieder aus. Als das Sozialamt das sah, schickte es mich in ein Asylheim in Prag“, beschreibt die Roma ihre Rückkehr nach Hause.
Trotzdem hörte sie nicht auf, an eine bessere Zukunft zu glauben. Sie fand einen Partner und wollte mit ihm eine Familie gründen – das, was ihr am meisten fehlte. „Doch erst nach drei Jahren Partnerschaft mit Milan kam Filip zur Welt. Da erst war ich 20 Jahre alt, früher wollte ich das Kind nicht gebären“, erklärt Emília und fährt sich mit der Hand durch das dunkle Haar. Doch in das neue Leben zu finden, war für sie, die fast nur in Heimen gelebt hatte, nicht einfach. Wie sorgt man für sein Kind? Wie finanziert man seinen Lebensunterhalt? Wie geht man mit Behörden um? All dies musste Emília erst lernen.
Große Hilfe bekam sie vom Frauenhaus in Prag, in das sie im Sommer 2007 eingezogen ist. Sie fand in der Einrichtung nette Sozialarbeiterinnen, eine Kinderbetreuung und junge Mütter, die zu ihren Freundinnen wurden. „Der Aufenthalt hat mir gezeigt, wie ich mich um mein Kind kümmern soll, wie ich Miete zahlen und Haushalt führen soll. Ich habe hier gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen“, erzählt die 23-jährige über die Einrichtung der Prager Stadtverwaltung. Nachdem Emília von ihrem Freund Milan verlassen wurde und die Frist für den Aufenthalt im Frauenhaus fast abgelaufen war, musste sie schließlich auch auf eigenen Füßen stehen können.
Beim Übergang in das neue Leben halfen ihr wiederum die Mitarbeiter des Frauenhauses. So musste Emília beispielsweise lange auf eine Sozialwohnung warten. „Die Leiterin des Frauenhauses ging mit mir und meinem Antrag zur Prager Stadtverwaltung und hat mich immer wieder empfohlen. Sie hat mit mir einen Lebenslauf geschrieben und hat immer wieder bei den Behörden angerufen“, beschreibt die alleinerziehende Mutter die Strapazen der Bewerbung um die Wohnung. Das Warten und der Einsatz der Mitarbeiter haben sich gelohnt. Emília bekam eine neue Einzimmerwohnung im Prager Viertel Černý Most mit Küchenecke, WC und Bad.
Der Anfang allein in der neuen Wohnung wird für Emília zwar schwierig, aber ihre Zukunft sieht sie sehr optimistisch. „Ich möchte mein Kind jetzt im Kindergarten und später in der Musikschule anmelden, mich um es kümmern und ein angenehmes Leben führen. Wenn Filip im Kindergarten ist, möchte ich mir eine Arbeit suchen“, sagt die junge Frau und zieht ihrem Sohn weiße Jacke an. „Vor der Zukunft habe ich jetzt keine Angst mehr.“ Nur eines ist ihr wichtig: Sie will nie zulassen, dass ihr Sohn je ein Kinderheim von innen sieht, kein Tschechisch spricht und ohne Ausbildung bleibt.
Doch nicht alle Roma in Tschechien haben so eine Einstellung zu ihrem Leben. Der Kronprinz der Roma Mario de Bikaver beschreibt die Lebensweise anderer Vertreter seines Volkes. „Unsere Zigeuner haben gelernt, im jetzigem System mit Sozialeinnahmen ein gewisses Lebensniveau zu halten. So bekommen sie vom System alles, was sie wollen. Viele leben in einer geschlossenen Gesellschaft, sind hermetisch abgeschlossen. Und sie wollen aus diesem Kreis auch nicht ausbrechen“, beschreibt Mario de Bikaver.