Die Pilzesammler sind los
Sieben von zehn Tschechen sammeln regelmäßig Pilze. Für manche ist der Gang in den Wald aber ein Rendezvous
(n-ost) – Da kommen sie wieder. Morgens schon gegen 5 Uhr schwärmen sie aus. Autos rattern über Landstraßen und holprige Waldwege. Am Waldrand wird geparkt, missmutig registriert, dass man wieder einmal nicht der erste ist. Pünktlich mit den Sommerferien hat in Tschechien die Hauptsaison für ein besonderes Vergnügen der Tschechen begonnen: Es geht in die Pilze.Welche Bedeutung die Pilze im Erzgebirge oder Böhmerwald haben, verdeutlicht ein Blick in die tschechischen Zeitungen. „Rostou!” – zu Deutsch: „Sie wachsen!”, steht da. Jeder Zeitungsleser weiß natürlich auf Anhieb, was da wächst: die Pilze natürlich. Auch in den Fernsehnachrichten werden regelmäßig besonders große Funde in Bild und Wort dokumentiert. Derlei spornt die Sammelwut noch weiter an, obwohl die ohnehin in den Genen der Tschechen angelegt zu sein scheint. Nicht nur europa-, sondern weltweit gelten sie als die Verrücktesten und Eifrigsten in diesem Metier.Das erregt im Ausland manchmal tiefe Verwunderung. Einer der großen Fußballer aus der einstigen Tschechoslowakei, Josef (Pepa) Bican, stieß in seiner Zeit in der belgischen Liga bei seinen Mannschaftskameraden auf strikte Ablehnung, als er sie zu einem großen Pilzeessen einlud. Nicht ein einziger Mitspieler wagte, etwas von dem köstlichen Mahl zu kosten. Dafür schlossen die Belgier heimlich eine Wette ab, dass Bican die Pilze nicht überleben würde. Am nächsten Tag kamen sie und schauten ernsthaft, ob ihr tschechischer Kollege noch lebe.„Je westlicher ein Land, desto geringer ist das Interesse an Pilzen”, sagt Petr Müller, Herausgeber der Zeitschrift „Houbar” (Der Pilzesammler). Und Ales Vit von der Tschechischen Gesellschaft für Mykologie (Pilzkunde) ergänzt: „Weder in Nordeuropa noch in den USA oder gar Australien sammelt man Pilze im wahrsten Sinne des Wortes – als Speise. Ein Hauptgrund dafür ist die Angst, sich vergiften zu können.” Eine Ausnahme bilden die Japaner, die ebenfalls große Pilzsammler sind. Allerdings essen sie die Pilze nie als Hauptgericht, sondern als Beilage.In Tschechien kann das mit den Vergiftungen kaum passieren. Zwar gibt es pro Saison immer mal zwei drei Leute, die sich vertan und etwa den tödlich giftigen Grünen Knollenblätterpilz für essbar gehalten haben. Aber in der Not gibt es auch Heerscharen von Pilzberatern. Zudem veröffentlichen die Zeitungen in ihren Wochenbeilagen immer wieder halbe Pilzbücher. Mit Fotos natürlich, vor allem aber ausführlichen Beschreibungen der Sorten und Tipps zur Verarbeitung der Pilze. Nicht jeder der hübschen Findlinge lässt sich beispielsweise auch trocknen. Und das ist bei den Pilzbergen, die die Tschechen aus den Wäldern schleppen, unumgänglich.Das Schöne am Pilzesammeln scheint indes nicht das Essen zu sein, sondern, dass man trefflich darüber spekulieren kann, wie das mit den vermeintlichen Regeln ist. Das meistdiskutierte Thema unter tschechischen Pilzjägern ist, ob die Pilze denn nun bei Vollmond besonders sprießen. Einige halten das für schlichten Aberglauben, andere schwören darauf. Petr Müller von der Zeitschrift „Houbar” äußert sich salomonisch: „Sie wachsen bei Vollmond tatsächlich schneller – aber nur, wenn es auch genügend Luftfeuchtigkeit gibt.” Von ergiebigem Regen hänge indes nicht alles ab, sagt der Experte. „Es braucht auch entsprechende Temperaturen. Ungünstig ist starker Wind, weil der den Boden austrocknet. Und die Pilzgeflechte brauchen Feuchtigkeit.”Während deutsche Pilzesammler gern ihre Fundorte geheim halten, sind Tschechen mit ihren Informationen freigiebiger. Auf speziellen Internetseiten geben sie die besten Fundstellen preis. Aber auch enttäuschende Erlebnisse finden Eingang. Am 2. Juni etwa notierte ein frustrierter Pilzesammler: „Lauter Nichts.“ Die Kommunikationsfreudigkeit tschechischer Pilzesammler erklärt Petr Müller so: „Man kommt einfach mit anderen Sammlern ins Gespräch. Spätestens auf dem Parkplatz vor der Heimfahrt. Da prahlt man gern mit seinem vollen Korb und seinen geübten Augen. Freilich werden aus Neid auch manche einstigen Freunde zu Feinden.”Die Experten führen sogar Statistiken. Ales Vit: „Wir sind ungefähr zehn Millionen Tschechen. Davon sind eineinhalb Millionen Kinder in einem Alter, in dem sie noch nicht suchen gehen. Etwa gleich viele Rentner im fortgeschrittenen Alter sammeln keine Pilze mehr. Und von den anderen marschiert natürlich auch nicht jeder in den Wald. Wir können aber davon ausgehen, dass sieben von zehn Tschechen ab und zu diesem Hobby fröhnen. Richtige Pilzesammler werden wir wohl etwa fünf Millionen haben. Die holen im Jahr im Durchschnitt pro Kopf eineinhalb Kilo aus dem Wald, das wären also zusammen siebeneinhalb tausend Tonnen.”Pilze halten im Tschechischen übrigens auch für Redewendungen her. Sagen die Deutschen einem Dreikäsehoch gern: „Da warst du noch im Teich”, oder „Da bist du noch mit der Trommel um den Christbaum gerannt”, sagt der Tscheche: „Da warst du noch bei den Pilzen.” Ethnografen erklären das damit, dass in der Tat viele Kinder im Wald beim angeblichen Pilzesammeln gezeugt werden. Da im Wochenendhäuschen häufig mehrere Generationen auf einem Fleck leben, müssten sich die jungen Leute ein eigenes Fleckchen suchen. So sei denn die Aufforderung „Lass uns in die Pilze gehen” mitunter nichts anderes als die Einladung zu einem Rendezvous.
Foto: Björn SteinzWarum ausgerechnet die Tschechen so verrückt nach den Pilzen sind, erklären die Fachleute so: „Pilze waren in alten Zeiten ein billiges Essen“, und für die Tschechen, die nie zu den reichsten Völkern gehört hätten, somit ein „gefundenes Fressen” – im wahrsten Sinne des Wortes. Die Speise wissen übrigens auch Prominente zu schätzen. Die Tennislegende Martina Navratilova behauptet etwa, dass sie nie so gut abschalten konnte wie beim Pilzesammeln.Manche Pilzesammler sind so prominent, dass ihnen beim Sammeln auch noch geholfen wird. So wurde die erste Ehefrau von Vaclav Havel, Olga, immer von Personenschützern in den Wald begleitet, was sie eigentlich nicht sonderlich erfreute. Bis sie einmal einer der Leibwächter von hinten anhüstelte: „Frau Havlova, wenn sie mal nach rechts schauen würden, da steht ein herrlicher Steinpilz.”Hans-Jörg Schmidt
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