Streit um die Schlacht von Poltawa
Als die Deutsche Romea Kliewer im Herbst vergangenen Jahres ihre Arbeit als Lektorin der Robert Bosch Stiftung in der zentralukrainischen Stadt Poltawa begann, kam ihr die Idee, eine Geschichtswerkstaat zur historischen Schlacht von Poltawa zu veranstalten. Das lag auf der Hand, denn die Vorbereitungen zur 300-jährigen Gedenkfeier waren in vollem Gange, die Denkmäler in der Stadt sind ohnehin allgegenwärtig. Aus der Idee wurde ein Projekt, an dem sich Studenten aus Poltawa und Freiburg beteiligen. Sie möchten den Wandel der ukrainischen Erinnerungskultur nach 1991 wissenschaftlich untersuchen.
Gerade die Interpretation der gemeinsamen Geschichte belastet das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine, zumal der Ort der Schlacht heute auf ukrainischem Territorium liegt. Die russische Regierung deutet die Schlacht „als Sieg der russischen Waffen“. Für die ukrainische Regierung ist sie hingegen ein Symbol der Unabhängigkeit ihres Landes. Damals hatte sich der ukrainische Kosakenführer Iwan Masepa (1644-1709) gegen den Zaren gestellt und an der Seite der Schweden gekämpft. In jüngster Zeit provozierten die Ukrainer die Russen vollends, als der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko ankündigte, ein Denkmal zu Ehren Masepas und des Schwedenkönigs vor dem Museum der Poltawer Schlacht zu erbauen, genau neben dem Sieger – Peter dem Großen.
Die Gemüter erhitzen sich besonders an der Gestalt des Hetmans Iwan Masepa. In der entscheidenden Schlacht bei Poltawa war der sonst an der Seite des Zaren kämpfende Ukrainer mit einem Teil seiner Kosaken zum schwedischen König übergelaufen. Erfolgreich war die Aktion nicht: Peter I., militärisch an Mensch und Material überlegen, besiegte den Schwedenkönig mitsamt den Kosaken des Hetmans. Karl XII. und Masepa flohen nach Bender in Bessarabien (heute Moldau) und fanden Schutz beim osmanischen Sultan. Kurz darauf starb der betagte Hetman. Mit dem Gewinn des Großen Nordischen Kriegs (1700-1721) legte Russland das Fundament seiner neuen Großmacht im Osten Europas. Schweden hingegen verlor seine Machtstellung an der Ostsee.
Trotz der militärischen Niederlage ist Iwan Masepa für die Ukrainerin Anastasija Maliyenko ein Held. Die 18-Jährige nimmt an der Geschichtswerkstatt zur Schlacht teil. Das ukrainische Volk habe gezeigt, dass es auch gegen den russischen Zaren handeln kann, sagt die Studentin. Mit ihrer Meinung liegt sie politisch auf der Linie ihres Präsidenten. Zum 370. Geburtstag des Hetmans im März pries Wiktor Juschtschenko den Kosakenführer als Staatsgründer der Ukraine. „Iwan Masepa ist kein Verräter, sondern ein Beschützer seines Heimatlandes“, sagte der ukrainische Präsident.
Szenen aus der Schlacht von Poltawa 8. Juli 1709 im Museum der Poltawer Schlacht / Romea Kliewer
Doch die Meinungen über die Bedeutung des Kosaken in der Ukraine sind geteilt. Laut einer Befragung der Research&Branding Group hält ein Drittel der Ukrainer Masepa für einen Helden, der für die Unabhängigkeit der Ukraine kämpfte. Das zweite Drittel ist der Meinung, Masepa sei ein Verräter. Das letzte Drittel der Befragten hat dazu keine Meinung. Anastasija Maliyenko aus Poltawa ist indes der festen Überzeugung, dass der Hetman den Grundstein für die ukrainische Unabhängigkeit gelegt hat. Die militärische Niederlage damals wird heute politisch als Sieg umgedeutet.
Der russische Historiker Juri Sorokin aus der westsibirischen Stadt Omsk kann solche urkainischen Geschichtsauslegungen durchaus nachvollziehen, obwohl er sie für falsch hält. „Jeder junge Nationalstaat versucht, seine Geschichte länger und älter zu machen. Die Ukraine ist da keine Ausnahme“, erklärt er die ukrainische Geschichtspolitik. Sowohl in Russland als auch in der Ukraine gebe es Historiker, die die nationale Geschichte gerne umdeuteten. In der Ukraine würden diese unseriösen Historiker aber vom Staat unterstützt, während in Russland solche Geschichtsfälscher keine Chance hätten, meint der 52-Jährige. In der Deutung der Schlacht gebe es zwei unvereinbare Sichtweisen. „Für die Ukrainer wird Masepa immer ein Held bleiben und für die Russen ein Judas“, sagt Sorokin.
Der Privatdozent Guido Hausmann vom Lehrstuhl für Neuere und Osteuropäische Geschichte der Universität Freiburg nimmt als Teamleiter an der Geschichtswerkstatt teil und versucht, die Wogen zu glätten. Für ihn sei wichtig, dass deutsche und ukrainische Studenten gemeinsam die Geschichte des frühen 18. Jahrhunderts erforschen und dabei ihre eigene politische Haltung hinterfragen. Aber auch er sieht, dass die Geschichte in der Ukraine politisch vereinnahmt werde. „Poltawa und Masepa werden jetzt politisiert, mehr, als es nötig und gut ist“, sagt der deutsche Historiker. Doch auch die russische Seite kritisiert der 47-Jährige: „Für die russische Geschichtspolitik wäre der Jahrestag eine gute Gelegenheit, Russlands Verhältnis zu seinen Nachbarn kritisch zu überdenken. Das geschieht kaum“, meint der Wissenschaftler. Ohnehin werde es noch eine Weile dauern, bis sich eine plurale und kritische Geschichtskultur in Russland und in der Ukraine durchsetze.
Romea Kliewer, die verantwortlich für die Geschichtswerkstatt in Poltawa ist, sieht indes in jüngster Zeit einige Zeichen der Entspannung. So sei die ukrainische Regierung bei der Errichtung eines Denkmals zu Ehren Mazepas schon zurückgerudert. Der ursprüngliche Plan, das Denkmal zentral vor dem Museum aufzustellen, wo schon das Monument des russischen Zaren stehe, wurde auf Eis gelegt. Stattdessen wollen die Ukrainer das Denkmal jetzt dezentral auf dem Schlachtfeld platzieren. Zudem seien Ukrainer und Russen im Gespräch, das komplette Schlachtfeld nach und nach zu restaurieren. Dies seien Hinweise darauf, dass die Ukraine außenpolitisch Russland nicht provozieren wolle, aber innenpolitisch ihren eigenen Weg zu gehen versuche, resümiert die Leiterin der Geschichtswerkstatt.