Ungarn

Orban-Anhänger blasen zum Kampf

 „Warum kommen ausgerechnet wir auf die Titelseiten der einflussreichsten Zeitungen?”, fragt Andrea Damm entgeistert. Die ungarische Juristin nimmt es den ausländischen Medien offenbar übel, dass diese momentan so kritisch über ihr Land und dessen umstrittenen rechtsnationalen Regierungschef Viktor Orbán berichten. Sie stimmt das für viele Ungarn typische Klagelied an: Ungarn sei in seiner Geschichte schon immer der „Willkür fremder Mächte” ausgeliefert gewesen. „Aus dieser Abhängigkeit müssen wir uns befreien“, sagt sie.

Die Bilder von zehntausenden Ungarn, die Anfang des Jahres gegen die neue Verfassung und den umstrittenen Regierungschef Viktor Orbán demonstrierten, gingen um die Welt. Am vergangenen Dienstag setzte nun die Europäische Kommission die Daumenschraube an und leitete nach wochenlangem Streit drei Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn ein. Die Brüsseler Behörde sieht die Unabhängigkeit der ungarischen Notenbank, der Justiz und der Datenschutzbehörde durch die umstrittene neue Verfassung gefährdet. Das neue Grundgesetz betoniere die Macht von Orbáns Partei FIDESZ, so auch die Kritik vieler Ungarn. Anfang Januar hatten Regierungsgegner zu zehntausenden gegen die neue Verfassung demonstriert.

„Hunde des Satans“

Der Druck aus Brüssel ist vielen Magyaren zuwider. Die rechtsradikale Partei Jobbik etwa, die bei den Parlamentswahlen 2010 mehr als 16 Prozent der Wählerstimmen erhielt, will ein Referendum über den Austritt Ungarns aus der EU abhalten. Dies könnte sogar Erfolg haben, denn die Mehrheit der Ungarn ist mit der EU-Mitgliedschaft unzufrieden. Jobbik-Anhänger verbrannten am vergangenen Wochenende in Budapest demonstrativ eine Flagge der Europäischen Kommission.

Heute (Samstag) planen die Anhänger des umstrittenen nationalkonservativen Regierungschefs Viktor Orbán nun einen „Solidaritätsmarsch“. Aufgerufen dazu haben der für seine rabiate Ausdrucksweise berüchtigte rechte Publizist Zsolt Bayer sowie andere Prominente aus Politik und Wirtschaft. „Was die Hunde des Satans hierzulande und im Ausland mit dieser Regierung machen, ist schlichtweg unakzeptabel“, so Bayer.

Doch trotz der scharfen Parolen und massenhaften Mobilisierung wenden sich immer mehr Konservative von ihrem einstigen Hoffnungsträger ab. Umfragen zufolge hat die Regierungspartei FIDESZ zwar immer noch die Mehrheit der Ungarn hinter sich, doch die Zustimmung schrumpft. Vielen ging bereits das vor einem Jahr in Kraft getretene Mediengesetz, das die Pressefreiheit stark einschränkt, zu weit. Doch ausschlaggebend ist vor allem die Wirtschaftsmisere, die die Regierung trotz kraftstrotzender nationalistischer Parolen nicht in den Griff bekommt. Der Chefredakteur der regierungskritischen liberalen Wochenzeitung „168 óra“, Ákos Mester, fragt in einem Leitartikel besorgt: „Wie bezahlen wir die Betriebskosten? Wie wird die Zukunft unserer Kinder aussehen? Überhaupt: Wie wird unser Leben aussehen?“

Viele haben sich längst von der Politik abgewendet

Die ungarische Währung, der Forint, hat in den vergangenen Monaten stark an Wert verloren, importierte Lebensmittel sind deshalb massiv teurer geworden. Die Kraftstoffpreise befinden sich in astronomischen Höhen. Die Mehrwertsteuer wurde Anfang dieses Jahres von 25 auf 27 Prozent erhöht, was in Europa Rekord ist. Hinzu kommt, dass Hunderttausende Ungarn ihre Raten für ihre Häuser und andere Anschaffungen nicht mehr tilgen können, weil sie sich in Devisenkrediten verschuldet haben. Vielen droht die Zwangsversteigerung.

Der Maurer József Turó aus dem Ort Tiszabura beispielsweise ist seit sechs Jahren arbeitslos. Er sucht händeringend einen Job, „um meinen Kindern eine ordentliche Ausbildung geben zu können“, sagt er. Allerdings steckt die ungarische Baubranche in einer tiefen Krise. József erzählt, dass das Familienbudget umgerechnet etwa 500 Euro im Monat betrage. „Viel zu wenig, um meiner Familie ein anständiges Leben bieten zu können.“

Wegen der Wirtschaftskrise hat sich die Mehrheit der ungarischen Gesellschaft längst von der Politik abgewendet, Viktor Orbán zwingt die Misere zu Zugeständnissen. Ohne milliardenschwere Kredite der Europäischen Union und dem IWF droht dem Land bereits im Frühjahr der Staatsbankrott. Noch im Sommer 2010 warf Orbán den IWF mit Tamtam aus dem Land, nun hat er sich den Vorgaben des Währungsfonds gebeugt und versichert, im Gegenzug zu dem dringend benötigten Notkredit die umstrittene Zusammenlegung der Ungarischen Nationalbank mit der Finanzmarktaufsicht wieder rückgängig zu machen.

Vom Saulus zum Paulus

Auch Außenminister János Martonyi gibt sich plötzlich lammfromm neuerdings als glühender Anhänger der europäischen Idee. Um Verhandlungen mit Ungarn zu starten, ist der Währungsfonds allerdings auf das Einverständnis der EU-Kommission angewiesen. Diese dürfte aber wohl nur dann grünes Licht geben, wenn die Regierung alle umstrittenen Gesetze ändert.

In den Medien mehren sich die Berichte, dass eine wachsende Zahl von Menschen Hunger leidet, darunter viele Kinder. Etwa im ostungarischen Tiszabő, der ärmsten Gemeinde in Ungarn. Die Arbeitslosigkeit beträgt hier fast hundert Prozent. Viele Familien müssen mit weniger als umgerechnet 100 Euro pro Monat auskommen. Überwunden geglaubte Krankheiten kommen wieder zum Vorschein, etwa Skorbut.


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