Der gute Mensch von Peja
Nichts in Peja ist so, wie es einmal war. Nur die Berge haben dem Krieg getrotzt: Wie ein Hufeisen umschließen die schneebedeckten Gipfel die Stadt am Fluss Bistrica. Peja steht heute auf dem Ortsschild, der frühere Name Pec ist durchgestrichen. Pec bedeutet auf serbisch „Ofen“, und tatsächlich ist es den dort lebenden Serben nach dem Krieg zu heiß geworden.
Die drittgrößte Stadt im jüngsten Staat der Welt, der Republik Kosovo, ist quasi „serbenrein“. Die mehr als 100 000 Bewohner von Peja sprechen albanisch. Wer dennoch eine Frage auf Serbokroatisch stellt, erntet entweder verständnisloses Schulterzucken oder einen bösen Blick. Rund 20 000 Serben verließen nach Ende des Krieges 1999 ihre Heimatstadt, aus Furcht um ihr Leben. Wo sie geblieben sind, interessiert ihre Nachbarn nicht. Nur einen Serben kennen sie alle in Peja. Einen, der sich nicht fürchten muss, der nicht angespuckt, beschimpft oder verprügelt wird, wenn er über die Straße geht. Einer, der von seinen albanischen Nachbarn freundlich gegrüßt wird.
Wer Grujo Zekic finden will, muss ins Krankenhaus von Peja, in die Ambulanz, die Treppe hinauf, durchs Wartezimmer und an der Türe hinten links kräftig klopfen. Hier wohnt Zekic, den sie alle „Grujo“ rufen. Ein schmales Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Kleiderschrank und zwei Bücherregale hat die Krankenhausleitung ihm vor Jahren geschenkt und das italienische Rote Kreuz hat die Wand himmelblau gestrichen. Seit 17 Jahren lebt Zekic auf diesen zwölf Quadratmetern und dennoch sieht es so aus, als wäre er hier nur auf Durchreise. Leere Schuhkartons stapeln sich, der Kalender an der Wand stammt aus dem Jahre 2005. Neben einem Bild von Mutter Teresa klebt ein vergilbtes Foto eines Tito-Soldaten. Es ist das junge Gesicht von Zekic, rund und blass wie der Vollmond. Stolz hält er sein Bajonett in der Hand.
Zekic, heute 73 Jahre, ist der einzige Serbe, der nach dem Krieg nicht aus Peja geflüchtet ist. „Für mich ist er ein Held. Da können Sie fragen, wen Sie wollen“, sagt Krankenschwester Sabria. Dabei begann Grujo Zekics Geschichte nicht gerade heldenhaft. Irgendwie hatte es den in Bosnien geborenen Serben als jungen Arbeiter Anfang der 60er Jahre in die Zuckerfabrik nach Pec verschlagen. Eigentlich hatte er orthodoxer Priester werden wollen, doch nach seiner Wehrpflicht in Titos Armee musste er Geld verdienen. Als die Stelle des Hausmeisters im Krankenhaus frei wurde, bewarb er sich. Das war 1967.
Zekic pflegte die Kieswege, wechselte die Glühbirnen aus, wischte die Fußböden und fiel nicht weiter auf. Erst als mit dem Tod Titos der Verfall Jugoslawiens begann und die Menschen ihre Nachbarn nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit in Gut und Böse einteilten, überraschte Zekic Freunde wie Feinde. „Mit seinem Gerechtigkeitssinn“, sagt Rama Gani, der Chefarzt der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses von Peja. Zekic schrieb Briefe nach Belgrad und protestierte gegen die Benachteiligung von Albanern im Kosovo. An einem Tag im Mai 1996 zogen ihn serbische Polizisten wutentbrannt aus einem Bus voller albanischer Demonstranten. Bei einem Streik des Krankenhauspersonals solidarisierte sich Zekic mit den Albanern. Das brachte ihm einen Eintrag in seine Personalakte ein.
„Grujo ist zwar Serbe, aber seine Herkunft interessierte ihn noch nie“, sagt Gani. Zekic ließ sich nicht beirren. Als wahrscheinlich einziger Serbe trat er in die Partei von Ibrahim Rugova, die „Demokratische Partei Kosovo“ (LDK) ein. Derweil waren die Vorboten des Krieges nicht mehr zu übersehen. Die albanischen Guerillakämpfer der UCK besetzten Dörfer rund um Pec und erschossen immer wieder serbische Polizisten aus dem Hinterhalt. Das serbische Militär rächte sich an albanischen Zivilisten und walzte ihre Häuser wie im nahe gelegenen Dorf Loxha mit Panzern nieder.
Einer wie Zekic machte sich da schnell verdächtig. Mehrmals verhörte ihn die serbische Polizei. Ein Verräter sei er, sagten sie. Wirklich anlasten konnten sie ihm aber nichts, nur verachtet haben sie ihn.Gefährlicher wurde es für Zekic, als in der Nacht zum 24. März 1999 der Bombenkrieg der NATO gegen das serbische Militär begann. Am nächsten Tag wurden die Albaner mit Gewalt aus der Stadt vertrieben. Im Zentrum von Pec war eine Sammelstelle eingerichtet: Busse karrten pausenlos mehrere Tausend albanische Einwohner an die Grenze nach Montenegro.
Auch Chefarzt Gani erinnert sich an die schrecklichsten Tage in seinem Leben: „Am Abend kamen serbische Paramilitärs auf das Grundstück meines Hauses, in schwarzen Uniformen und Wollmasken“, sagt er. „Ich solle abhauen, so schnell es geht, sagte ein Nachbar zu mir.“ Gani packte ein paar Kleider und floh mit Frau und drei kleinen Kindern am frühen Morgen zu Fuß in die verschneiten Berge. Mit Erfrierungen an den Händen erreichte die Familie die rettende Grenze.Wer sich weigerte zu gehen, riskierte den Tod. Wie viele Albaner in Pec von serbischen Paramilitärs, Polizei und Armee getötet wurden, ist nicht genau bekannt. Viele Wohnhäuser der Albaner gingen in Flammen auf, die Altstadt von Pec verwandelte sich in wenigen Tagen in eine qualmende Ruinenlandschaft.
Kosovo
Kosovo hat rund 2,1 Millionen Einwohner und ist etwa halb so groß wie Hessen. Rund 90 Prozent der Bewohner sind Albaner, der Rest sind Serben und andere Minderheiten. Während des Nato-Krieges (24. März bis 10. Juni 1999) wurden ca. 10.000 Kosovo-Albaner vom serbischen Militär getötet. Seit Ende des Krieges steht Kosovo unter der Verwaltung der Vereinten Nationen. Die internationale Friedenstruppe KFOR mit rund 16 000 Soldaten schützt die zurückgekehrten Kosovo-Serben – die meist isoliert in Enklaven leben – vor Racheakten. Im März 2004 kam es erneut zu schweren Unruhen, bei denen 19 Serben getötet wurden. Kosovo wurde am 17. Februar 2008 ein unabhängiger Staat. Die serbische Regierung betrachtet die Abspaltung Kosovos als völkerrechtswidrig und lässt die Rechtmäßigkeit der Unabhängigkeit vom internationalen Gerichtshof prüfen.
Grujo Zekic blieb in Pec. Er tat, was er immer tat. Er half, wo er sah, dass er helfen konnte. Die albanischen Patienten des Krankenhauses, die zu schwach für die Flucht waren, lebten im Schutz der katholischen Kirche bei Pfarrer Don Lorenzo und schliefen auf Isomatten. Selbst die Schwerkranken wurden aus dem Krankenhaus geworfen, um darin verwundeten serbischen Kämpfern Platz zu machen. Ohne Zekic wäre wohl mancher Patient in der Kirche gestorben. „Grujo war ein Segen für die Albaner“, sagt der Pfarrer. Täglich kam der Serbe mit einem Handkarren und transportierte die Dialyse-Patienten von der Kirche in die Klinik. „Nur er konnte das machen. Einen Albaner hätten die Paramilitärs, die auf den Straßen patrouillierten, erschossen“, sagt Pfarrer Don Lorenzo.
Drei Monate nach Ausbruch des Krieges wendete sich das Blatt. Italienische KFOR-Truppen rückten in die Stadt ein – und mit ihnen die albanischen Guerillakämpfer der UCK. Jetzt flohen die Serben der Stadt ins serbisch-orthodoxe Kloster. Von dort wurden sie mit einem Militär-Konvoi nach Serbien in Sicherheit gebracht. Zekic blieb wieder, doch plötzlich drohte auch ihm Gefahr. „Für die UCK-Soldaten war er ein Serbe“, sagt Chefarzt Gani, doch die zurück gekehrten albanischen Ärzte stellten sich schützend vor ihn. Zekic trug in diesen Tagen immer einen Brief des neuen albanischen Krankenhausdirektors bei sich, der ihn als „guten Serben“ ausweist. Der Brief rettete ihm das Leben. Bei einer Straßenkotrolle der UCK wollten Guerillakämpfer ihn mitnehmen – und ließen ihn schließlich doch ziehen.
Das ist jetzt zehn Jahre her. Zekic steht mit Hammer und Zange vor dem Eingang des Klosters der katholischen Vinzentinerinnen, die für ihn dreimal am Tag Essen kochen, und repariert das Tor. Es klemmt. Über sein Leben spricht Zekic nur zögerlich. Es ist ihm unangenehm, lieber würde er Holz hacken für die Nonnen oder einer alten Frau im Garten helfen. „Ich habe nichts besonders getan, nur das, was Gott mir befohlen hat.“ Ob das ein serbisch-orthodoxer, ein katholischer Gott oder ein muslimischer Allah war, habe er nie gefragt. „Für mich gibt es nur einen da oben.“ Eine andere Antwort habe er nicht: „Man tut, was man tun muss, um am Ende vor seinem Richter zu bestehen,“ sagt er und repariert das Tor weiter.
Grujo Zekic steht an einem alten Friedhof, gleich neben dem Heim der Vinzentiner-Nonnen. Die verwitterten Grabsteine sind umgefallen, sie stammen aus dem 18. Jahrhundert. „Damals“, sagt Zekic, „wurde kein Unterschied gemacht. Eine Cholerawelle hat Moslems und Serben dahingerafft. Sie wurden in aller Eile hier zusammen begraben.“ Zekic redet nicht gerne über den Tod. „Vielleicht werden mich die Vinzentiner-Nonnen begraben, vielleicht die Ärzte aus dem Krankenhaus, nur Gott weiß es“, sagt er. Eine schlichte Beerdigung möchte er, „einen Sarg brauche ich nicht, ein Leinentuch genügt“.