Interview mit Tadeusz Mazowiecki
Für den 1989 gewählten polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki war der Beginn der Wende ein langer Prozess(n-ost) – Polen feiert am heutigen Donnerstag den 20. Jahrestag der ersten demokratischen Wahlen. Der 4. Juni wurde zum zentralen Gedenktag auserkoren, Regierungschefs aus mehreren europäischen Ländern werden erwartet. Indes sieht der damals als Ministerpräsident gewählte Tadeusz Mazowiecki den 4. Juni 1989 lediglich als Tag einer Willensbekundung eines Volkes an. Für ihn ist der Beginn der Demokratisierung in Polen ein Stück in drei Akten.Frage: Was bedeutet der 4. Juni für Sie persönlich Herr Mazowiecki?Mazowiecki: Eigentlich ist das ganze Jahr 1989 etwas Besonderes für mich. Es wurde 20 Jahre später einfach festgelegt, dass dieses Datum den Kern der Feierlichkeiten bilden soll. Der 4. Juni war eine Willensbekundung der Gesellschaft und ein Tag, der uns weitere Änderungen erlaubt hat. Aber die ganze Demokratisierung Polens ist nicht an einem Tag passiert, es war ein langer Prozess in drei Akten: der Runde Tisch, die Juniwahlen und Gründung meiner Regierung, also der tatsächliche Beginn der Machtübernahme. Deshalb sollte das ganze Jahr 1989 gefeiert werden.Frage: Die Basis für die Gespräche am Runden Tisch war die erneuerte Zulassung von Solidarnosc – ein zunächst kleiner Schritt. Vier Monate später haben die freien Wahlen stattgefunden. War das eine spontane Entwicklung oder eine geplante Strategie?Mazowiecki: Die Zulassung von Solidarnosc war eine Bedingung, ohne die wir uns gar nicht an den Runden Tisch gesetzt hätten. Allein die Zulassung war eine Wende in der damaligen Situation. Dadurch ist eine neue Kraft entstanden, die ein Partner für die Regierung werden könnte.Frage: Die Wende war also doch keine Überraschung?Mazowiecki: Änderungen haben wir erwartet. Doch ziemlich lange haben wir nicht gewusst, was für Änderungen es sein werden. Heutzutage, nach so vielen Jahren, gibt es Menschen, die sich Erinnerungen einbilden und sagen, sie hätten damals schon gewusst, dass das System am Ende gewesen sei. Aber in der Tat war es nicht vorherzusehen, dass das System und die USSR sogar bald zusammenbrechen würden. Damals haben wir uns bemüht, das System zu modifizieren. Und noch an dem Runden Tisch haben wir gedacht, wir werden als Folge der Verhandlungen als Opposition in dem modifizierten System wirken. Die Zulassung von Solidarnosc und die halbfreien Wahlen waren ein Fortschritt, aber gleichzeitig gab es noch sowjetische Truppen in Polen.Frage: Heute heißt es, Solidarnosc habe verloren. Mit anderen Menschen und der richtigen Strategie hätte man mehr erreichen können. Was denken Sie darüber?Mazowiecki: Man kann immer sagen, man hätte mehr erreichen müssen. Es gilt eine einfache Regel – diejenigen, die sich an Verhandlungen nicht beteiligt haben, behaupten immer, man hätte sie besser führen können. Meiner Meinung nach haben wir damals sehr viel erreicht. Der Weg zur Machtübernahme wurde vorbereitet. Polen war das erste Land in dem Ostblock, das dies erreicht hat und das auch noch auf friedlichem Weg. Ich denke, das hat die weiteren Änderungen in anderen Ländern ermöglicht. Die Vorwürfe finde ich grundlos und ahistorisch, sie berücksichtigen nicht die damalige Realität.Frage: Warum war ausgerechnet Polen das erste Land im Ostblock, in dem die friedliche Wende stattgefunden hat?Mazowiecki: In Polen hat eine breite Bewegung in der Gesellschaft existiert, ununterbrochen seit 1980. Diese Bewegung hat den Großteil der Bevölkerung vertreten. Ihre Bedeutung hat am Ende der Achtziger zugenommen – wegen der aktuellen Situation. Die Regierung hat gesehen, dass die ökonomische Situation in Polen hoffnungslos war und dass man dies nicht ohne Mitwirkung der Gesellschaft überwinden konnte. Es gab in Polen noch einen anderen wichtigen Faktor, den man nicht unterschätzen darf: Die Katholische Kirche war eine Vermittlerin und Bürge für die Beschlüsse, denn ihre Vertreter haben mit am Runden Tisch gesessen. Alle diese Faktoren haben zur Wende beigetragen.Frage: Welche war die Rolle der Regierung? In keinem anderen Land hat sich das Regime entschieden, freiwillig mit der Opposition zu verhandeln.Mazowiecki: Sicherlich muss man anerkennen, dass die damalige Regierung der Co-Autor des Runden Tisches war. Und man muss anerkennen, dass sie später die Macht friedlich an uns übergeben hat.Frage: Der Höhepunkt des Jahres 1989 war die Gründung Ihrer Regierung. Die erste nicht-kommunistische Regierung. Was haben Sie gefühlt im Moment des Schwurs – Freude, Stolz oder eher die Last der Verantwortung?Mazowiecki: Da bin ich zusammengebrochen. Nicht wegen der Emotionen, sondern vor Müdigkeit. Ich hatte sehr lange am Programm gearbeitet. Zu viel Kaffee getrunken, zu viel Zigaretten geraucht. Ich musste um eine Pause bitten. Als ich fortgesetzt habe, erklärte ich, ich habe mich selbst in den Zustand geführt, in dem sich Wirtschaft Polens befindet, und ich hoffe, sie werde sich so schnell erholen, wie ich mich erholt hatte. Selbstverständlich habe ich eine riesige Verantwortung gespürt, die ich als Ministerpräsident tragen sollte und die auch mein ganzes Kabinett übernehmen sollte.Frage: Nach 20 Jahren erinnern sich viele Menschen sentimental an die Zeiten vor der Wende. Es habe keine Arbeitslosigkeit gegeben, keine Armut und keine Wirtschaftsunterschiede - mit diesen Argumenten loben sie die damalige Zeit.Mazowiecki: Demokratie und Marktwirtschaft sind, im Unterschied zu Kommunismus und Planwirtschaft, ein System, das keine absolute Glückseligkeit verspricht und das man ständig korrigieren muss. Denn das System hat viele Schwächen. Man muss die Ungleichheiten und die Ereignisse, die zu Krisen führen, überwinden. Aber gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass wir Freiheit haben, dass Polen unabhängig ist. Dass wir uns ökonomisch entwickeln und nicht eingeklemmt in Hoffnungslosigkeit feststecken, wie es in der Planwirtschaft war.Frage: Doch neben den wirtschaftlichen Problemen sehen die Menschen auch ständige politische Konflikte, und das unter den ehemaligen Helden der Solidarnosc. Sogar im Vorfeld der Feierlichkeiten zu dem 4. Juni waren sie nicht zu vermeiden.Mazowiecki: Die Streitereien finde ich unnötig und ich denke, die Polen empfinden genauso. Historisch betrachtet muss man sehen, dass Solidarnosc eine große Gewerkschaft, aber auch eine politische Bewegung mit einem großen Spektrum war, von links bis rechts. Er war klar, sie würde sich teilen, sobald es mit dem Aufbau von Parteistrukturen losgeht. Meiner Meinung nach hätte das in einem anderen Still passieren können, als es in der Tat stattgefunden hat.Frage: Wie sehen Sie Solidarnosc heute?Die heutige Solidarnosc hat mit der damaligen nichts zu tun. Heute ist sie eine von vielen Gewerkschaften, dazu eine mit forderndem Charakter. Geblieben ist in Polen aus dieser Zeit, denke ich, ein Gefühl des Freiheitskampfes. Dieses Gefühl ist Teil unserer Tradition geworden, unserer Geschichte und Identität. Dieses Gefühl sollte zu einem besseren Stil in der Politik führen.Frage: Im europäischen Bewusstsein werden die Ereignisse in Polen, die der Ausgangspunkt für die Reformen in ganz Osteuropa waren, häufig vom Berliner Mauerfall verdrängt – zu Unrecht?Mazowiecki: Der Mauerfall ist ein visueller Fakt, der vieles einfacher zeigt als mehrere Monate Debatten und Verhandlungen am Runden Tisch. Das ist ein sehr pragmatischer Grund. Anderseits haben wir Polen auch nicht genug Informationen über diese historische Tatsache verbreitet. Jetzt, glaube ich, es macht kein Sinn, sich auf den Kampf um Symbole zu konzentrieren. Es ist besser, die historische Wahrheit zu zeigen. Der Mauerfall war ein sehr wichtiger Moment, aber er ist nicht einfach so passiert. Er folgte den Ereignissen in Polen. Und ich denke, jeder, der sich fragt, woher der Mauerfall kam, muss zum polnischen Weg gelangen. Ein guter Beobachter kommt von selbst dorthin.
Tadeusz Mazowiecki, der erste seit dem 2. Weltkrieg frei gewählte Ministerpräsident Polens. Foto: Agnieszka HreczukINFOKASTENTadeusz Mazowiecki ist ein polnischer Politiker, Publizist und Sozialaktivist. Er war mehrmals Abgeordneter im polnischen Parlament, zum ersten Mal 1961 als Vertreter der katholischen Gruppierung „Znak“ („Zeichen“). Als Solidarnosc-Aktivist wurde er 1981 nach der Einführung des Kriegszustandes verhaftet und im Dezember 1982 als einer der letzten Inhaftierten befreit. Er war Vorsitzender einer der Arbeitsgruppen am Runden Tisch, einer der Väter der finalen Beschlüsse dieses Gremiums. Im September 1989 wurde er zum Ministerpräsidenten der ersten demokratischen Regierung nach dem Krieg gewählt. Unter seiner Regierung wurden die grundlegenden Reformen in Polen eingeführt. Mazowiecki war Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen 1990. Zurzeit ist er Mitglied der Partei der Demokraten, die er auch mitbegründet hat.Agnieszka Hreczuk
ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0