Rumänien

Die Plünderung des Sozialstaats

Seit Tagen protestieren tausende Rumänen gegen den rigiden Sparkurs der Regierung. Das Land steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise, Beamtengehälter und Renten wurden drastisch gekürzt, hinzu kommt die grassierende Korruption. Eine Behandlung beim Arzt beispielsweise gibt es nur gegen Bestechung, das Gesundheitswesen steht vor dem Kollaps.

Bukarest (n-ost) – Die jungen Eheleute haben nichts vergessen. Nicht, wie sie im Krankenhaus auf demütigende Weise um mehr Aufmerksamkeit für ihr krankes Kind betteln mussten. Nicht, wie sie Ärzten und Schwestern diskret Geldscheine zusteckten. Und vor allem nicht, dass ihre Tochter wegen der Schlamperei des Personals fast gestorben wäre. Deshalb hatten der Musiker Mihai Nenita und die Fernsehmoderatorin Alexandra Dragusin überlegt, ob sie nun auch auf die Straße gehen und sich den Protesten gegen die Gesundheitsreform und gegen die Sparpolitik der Regierung anschließen sollten. Doch sie haben zu viel Angst – vor Fußball-Hooligans, vor prügelnden Polizisten, vor Tränengas.

Die zweieinhalbjährige Tochter der beiden Bukarester ist Opfer von Verhältnissen, gegen die Tausende Rumänen seit Tagen auf die Straße gehen. Im August 2010 hatte sich die kleine Ariana mit dem Rota-Virus infiziert, der eine gefährliche Durchfall-Erkrankung auslöst. Das Mädchen, damals knapp ein Jahr alt, kam in eine Bukarester Kinderklinik – und wäre fast gestorben.

Mal stocherte eine Krankenschwester mit einer abgebrochenen Nadel in Arianas Vene herum, dann entdeckte Alexandra Dragusin Luft im Infusionsschlauch, durch den ihre Tochter ein Antibiotikum verabreicht bekam. Panisch riss sie den Venenkatheter aus dem Arm ihrer Tochter – das Stationspersonal beschimpfte sie daraufhin als hysterisch. „Sie haben keinerlei medizinische Regeln eingehalten“, erinnert sich die Mutter noch immer entsetzt. Ihr Mann sagt heute: „Gott sei Dank mussten wir seitdem nicht mehr ins Krankenhaus mit unserer Tochter.“

Der Fall der kleinen Ariana ist in Rumänien keine Ausnahme. Fast jeder, der einmal im Krankenhaus war, kann ähnlich dramatische Geschichten erzählen. Zwar reichen die Ursachen des Desasters im rumänischen Gesundheitswesen bis in die Ceausescu-Zeit zurück. Doch die rigide Sparpolitik der letzten Jahre hat die Situation noch einmal verschärft.

Die staatlichen Ausgaben für Gesundheit betrugen in den vergangenen Jahren jeweils nur 3,5 bis 4 Prozent des Bruttosozialproduktes, der EU-Durchschnitt liegt mehr als doppelt so hoch. Zehntausende von Ärzten und Pflegern sind aus Rumänien abgewandert, um in Westeuropa, darunter auch in Deutschland, zu arbeiten. Im Land fehlen inzwischen 40.000 Ärzte, schätzt man beim rumänischen Ärzteverband. In manchen ländlichen Gegenden gibt es praktisch kaum noch Gesundheitsversorgung, in vielen Kleinstädten nur sehr eingeschränkt.

Doch nicht nur das Gesundheitswesen ist von der Sparpolitik betroffen, sondern fast alle Bereiche des öffentlichen Dienstes und der Staatsverwaltung. Dabei müssen die Rumänen Maßnahmen über sich ergehen lassen, gegen die griechische Sanierungspakete geradezu harmlos wirken: Nachdem Rumänien von der globalen Finanzkrise 2008 ökonomisch schwer getroffen war, musste das Land um Notkredite beim Internationalen Währungsfond betteln und im Gegenzug mehr Haushaltsdisziplin durchsetzen. So wurden im Jahr 2010 beispielsweise die Gehälter im öffentlichen Dienst um 25 Prozent gekürzt, Renten und viele Sozialleistungen in ähnlichem Ausmaß.

Die sozialen Folgen bezeichnet der Bukarester Politologe Cristian Parvulescu als verheerend. „Heute sind in Rumänien nicht einmal mehr die kleinsten sozialen Elemente der Demokratie geschützt”, sagt er. „Der Staatspräsident Traian Basescu ist ein Anhänger des neoliberalen Modells und erwartet, dass der Markt alle Probleme löst.”

Auslöser der Proteste gegen diese Politik war der Rücktritt eines Unterstaatssekretärs im Gesundheitsministerium Anfang voriger Woche. Kein banaler Vorfall, denn fast jeder in Rumänien kennt den Mann: Raed Arafat. Der ehemalige Rettungsarzt baute 1990 in einer siebenbürgischen Stadt erfolgreich den ersten ambulanten Rettungsdienst Rumäniens auf und ist durch seinen unermüdlichen Einsatz für eine bessere Gesundheitsversorgung sehr populär. 2007 wurde er Unterstaatssekretär im rumänischen Gesundheitsministerium.

Am Montag vor einer Woche kritisierte er in einer Fernsehsendung vorsichtig einzelne Punkte der geplanten Gesundheitsreform. Daraufhin rief Staatspräsident Traian Basescu im Studio an, attackierte Arafat verbal und legte ihm nahe zurückzutreten - die Zuschauer konnten das live verfolgen. Tags darauf trat Arafat tatsächlich zurück. Im ganzen Land kam es zu Solidaritätskundgebungen für Arafat, die sich schnell zu Protesten gegen den Staatspräsidenten und die Sparpolitik der Regierung ausweiteten.

Die Lage ist ernst, immerhin hat Rumänien vor dreizehn Jahren schon einmal eine soziale Revolte erlebt, die das Land an den Rand des Ausnahmezustandes gebracht hat. Gegen den Aufstand der Bergarbeiter aus dem Schiltal Anfang 1999 wurden sogar Panzer aufgefahren.

Der Staatspräsident Basescu ließ die Gesundheitsreform inzwischen zurückziehen, Regierungschef Emil Boc äußerte Verständnis für die Anliegen der Protestierenden. Nun soll es einen „Dialog mit der Zivilgesellschaft“ geben.

Den zurückgetretenen Unterstaatssekretär bat Boc fast flehentlich um seine Rückkehr: „Herr Doktor, Sie sind in der Regierung jederzeit wieder willkommen.“ Arafat akzeptierte das Angebot. Er wird nun die neue Gesundheitsreform mit ausarbeiten. Ein Ziel hat er bereits erreicht: Die ursprünglich geplante Liberalisierung des bisher staatlichen ambulanten Rettungswesens wurde zurückgenommen.

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