Eine Mama für 80 Kinder
Wer Galja besuchen möchte, kommt nicht mit leeren Händen. Einen Sack Makkaroni, einen Laib Käse, zehn Pakete Butter oder eine Tüte mit Teepaketen und Zitronen sind typische Geschenke der Besucher. Galja Martinovo, 51, lebt wie sie selber sagt, „mit 18 Problemkindern und 10 Problemhunden“ in einer Wohnung. Seit 30 Jahren widmet sich die schöne Halbbulgarin mit den großen, lieben Augen der Erziehung von Straßenkindern in Odessa. „Wie viele Kinder und Jugendliche ich schon aufgenommen habe, kann ich genau nicht beantworten, aber mehr als 80 sind es bestimmt“, sagt Galja.
Im Süden der Ukraine, am Schwarzen Meer in Odessa, hat Galja all die Jahre ein offiziell registriertes Familienkinderhaus selbst gemanagt. „Die Kinder finden den Weg zu mir“, sagt Galja. Viele Kinder haben traumatische Erfahrungen hinter sich: Eins ist halb erfroren aus dem Kühlschrank gefallen, in das es die Eltern gesperrt haben. Manche Kinder haben sadistische Eltern, die auf ihrer Tochter oder auf ihrem Sohn Zigaretten ausdrücken. Alle Kinder haben Erfahrungen mit häuslicher Gewalt.
Porträt Galja / Svetlana TarassukWährend Galja erzählt, kommt Schulkind Emily ins Zimmer. Sie fragt: „Mama, wir haben kein Brot mehr zum Abendessen, kann Martin in den Supermarkt gehen?“ Galja schlägt vor, aus den Zutaten, die noch im Hause sind, herzhafte Pfannkuchen zu backen. Galja ist die neue Mama von Emily und ihren zwei Geschwistern. Deren Mutter, Englischlehrerin und Prostituierte, wurde vergangenes Jahr von einem Liebhaber erstochen.
Galja thront auf ihrem Bett in einem der beiden Schlafzimmer, in denen die mehrstöckigen Betten bis an die Decke reichen, und erzählt mit ihrer ruhigen, melodiösen Stimme wahre Schauergeschichten. Unter ihrem Bett versteckt sich ein frecher, kleiner Straßenköter, der sich nicht wie die anderen Hunde aus dem Zimmer locken lässt. Er verteidigt Galja und ihre Kinder mit lautem Gekläff.
Galja hat sich seit mehr als drei Jahren in der 145 Quadratmeter großen Wohnung eines ehemaligen Odessaer Staatsanwalts eingerichtet. Nachdem der Staatsanwalt sich mit der Gebietsverwaltung zerstritten hatte, brachten die Behörden Galja und ihre Kinder aus ihrer alten Wohnung in einem Odessaer Hof in Bahnhofsnähe in einer Nacht- und Nebelaktion in dem exklusiven Wohnhaus unter. Eine Schranke sichert den Hausparkplatz, wo sich Jeeps und Limousinen mit schwarz getönten Scheiben aneinander reihen. Das Meer und das Shoppingcenter „Gärten des Sieges“ sind bequem zu Fuß zu erreichen.
Galja sieht sich in dem politischen Streit nicht als Siegerin, viel lieber würde sie die Wohnung verkaufen und mit den Kindern in ein Haus im Grünen ziehen. Aber sie ist nicht Eigentümerin der Wohnung. Die High-Tech-Einrichtung des Vormieters nutzt die Familie auf ihre Art. Aus der Massagedusche und dem Whirlpool mit eingebautem Fernseher wurde ein Tierkrankenhaus, die Sauna wurde zur Abstellkammer für Tierfutter.
Galja hilft nicht nur armen Kindern, sondern auch armen Tieren. Dabei kennt ihre Fürsorge keine Grenzen. 10 Hunde, 14 Katzen, ein Kaninchen, eine Ratte, eine Kröte, eine Landschildkröte, eine Wasserschildkröte, ein Eichhörnchen und eine Taube leben in der Wohnung. Die Kinder pflegen die Tiere nicht nur aus Mitleid. Sie lernen, dass es jemanden gibt, dem es noch schlechter geht als ihnen und der sie braucht. Als Galjas neuer Zögling Vitalik einem Straßenhund im Park begegnete, sagte er: „Der arme, er hat keinen Herren, so habe ich früher gelebt, als ich noch keine Mama hatte.“ Heute ist Galja seine Mama und die kennt alle Schicksale, die der Kinder und die der Tiere.
Als Einzelkind geboren, fing Galja beeinflusst von der Lektüre sowjetischer Arbeitsliteratur mit 16 Jahren im Stahlwerk an zu arbeiten. Für die kommunistische Jugendorganisation Komsomol kümmerte sie sich um die Reintegration jugendlicher Straftäter. Galja lacht. „Manche Jugendliche waren ein bis zwei Jahre älter als ich, und ich sollte mich um sie kümmern.“ In ihrer Arbeit sei sie damals sehr erfolgreich gewesen, sagt Galja und führt das bescheiden nicht auf ihr pädagogisches Gespür, sondern auf ihre Schönheit zurück. „Die waren doch alle verliebt in mich“, sagt sie.
Ihr erstes Straßenkind hat sie kurz nach der Geburt ihrer ersten eigenen Tochter Violetta angenommen. Der Junge mit dem poetischen Spitznamen Sonnenstrahl hielt eine Überraschung für seine neuen Eltern bereit. Die blonden Locken fielen dem Kleinen bald aus. Es wuchsen dunkle kräuselige Haare nach. Ein Mischlingsbaby. Galjas Mann bekam Angst, dass die Nachbarn denken könnten, Galja sei fremdgegangen, und schlug vor, den Jungen ins Heim zurückzugeben. Galja stellte ihren Ehemann vor die Wahl: „Entweder ich oder der Junge“. Der Mann entschied sich zu gehen. Das Baby, das damals mit sieben Monaten nur vier Kilo wog, hat heute ein Universitätsdiplom in ukrainischer Philologie.
Schulkind Emily wartet höflich das Ende der Geschichte ab und fragt, ob man die herzhaften Pfannkuchen genauso wie die süßen zubereitet. Galja bejaht. „Es fehlt aber die Milch für die Pfannkuchen“, sagt Emily. „Dann nimm Wasser“, sagt Galja. Geld ist im Hause Martinovo immer knapp. Der Staat zahlt für fünf Kinder. Galja kommt für die Kinder, die sie adoptiert hat, für die sie die Vormundschaft übernommen hat oder die mit Einverständnis der Eltern bei ihr wohnen, selbst auf. „Sponsoren kommen und gehen“, sagt Galja.
Fragt man Galja nach den Geheimnissen ihrer Erziehung, setzt sie sich zum ersten Mal im Gespräch gerade auf. „Verständnis, Liebe, moralische Stärkung. Keine Verbote aufstellen, sondern gemeinsam mit den Kindern nach Lösungen suchen.“ In den letzten Jahren ist Galja aber erschöpfter geworden. Mit Enttäuschung hat sie zur Kenntnis genommen, dass einige Kinder trotz ihrer Liebe und Erziehung den kriminellen Weg der Eltern eingeschlagen haben.
Galja kann nicht verstehen, warum einer ihrer Ziehsöhne mit einem Luxuswagen durch Odessa fährt und für seine ehemalige Pflegefamilie keine Kopeke übrig hat. „Fauler Dieb, Alkoholiker, Verräter“, schimpft sie. Galja spricht offen über verfehlte Lebenswege ihrer ehemaligen Schützlinge. „In meiner Naivität habe ich früher gehofft, dass die Kinder das Böse hinter sich lassen und in meiner Familie zu einem anderen Menschen werden. Obwohl viele Kinder in jungem Alter zu mir gekommen sind, beobachte ich, dass sie das verfehlte Leben ihrer Eltern wiederholen: Mutter alkoholabhängige Prostituierte, Tochter Geliebte eines verheirateten Mannes und dem Alkohol nicht abgeneigt.“
Aufgeben steht für Galja nicht zur Debatte. Gerade liest sie einen Roman über die französische Symbolfigur des Widerstandes Jeanne d´Arc. „Die hatte auch solche übernatürlichen Kräfte, ein bisschen wie ich“, sagt Galja. Streng gläubig ist Galja nicht, eher von dem Wunsch beseelt zu helfen. Vor kurzem hat sie in einem Nonnenkloster ein Schild entdeckt: „Wir können in der Krisenzeit nicht mehr helfen.“ Das kommt für Galja nicht in Frage. „Wenn jemand Hilfe braucht, bekommt er Hilfe von mir, egal ob Mensch oder Tier.“