Eine Stadt mit zwei Gesichtern
Seit der EU-Erweiterung vor fünf Jahren wachsen das slowenische Nova Gorica und das italienische Gorizia langsam zusammen
(n-ost) – Der Bahnhofsvorplatz von Nova Gorica, ganz im Westen von Slowenien, wirkt verlassen. Ein Taxifahrer blättert in seiner Zeitung, nur wenige Meter entfernt parken zwei italienische Militärpolizisten ihren Wagen mit der Aufschrift „Carabinieri“. Der Zug in die Alpenstadt Jesenice verkehrt nur selten, der Bahnsteig ist leer. Ein normaler Platz, irgendwo in der mitteleuropäischen Provinz. Wären da nicht die Blumenkübel aus Beton, die sich nebeneinander reihen, um dann in einen brusthohen, dunkelgrünen Maschendrahtzaun überzugehen. 35 Meter sind es genau, die die Tür der k.u.k.-Bahnhofshalle von den Betonkübeln trennen. Diese markieren die Staatsgrenze. Dahinter beginnt Gorizia, Nordostitalien.
Der Piazzale della Transalpina (Transalpin-Platz), dessen slowenische Hälfte Trg Evrope (Europaplatz) heißt, wurde mit dem EU-Beitritt Sloweniens vor fünf Jahren zum Symbol der Wiedervereinigung der Stadt. Mit Fanfaren wurde der grüne Zaun abgetragen und später ins winzige Grenzmuseum im Bahnhofsgebäude verfrachtet. Dort erzählt er heute, gemeinsam mit Grenzsteinen, dem roten Stern vom Bahnhofsdach und Passierscheinen für Grenzanwohner die Geschichte einer Doppeltstadt.
Mit Casinos lockt Nova Gorica in Slowenien Besucher an, vor allem aus Italien. Foto: Veronika Wengert
Ein zweites Berlin in Mitteleuropa? Der sozialdemokratische Bürgermeister von Nova Gorica, Mirko Brulc, schüttelt energisch den Kopf. Nein, es sei immer eine Stadt gewesen. Vor allem in den vergangenen drei, vier Jahrzehnten hätten sich eine gute Zusammenarbeit, aber auch ein reger Grenzverkehr entwickelt, so Brulc. Die Italiener hatten Benzin, Fleisch und Zigaretten auf ihren Einkaufslisten stehen. Und die Slowenen lockten zu sozialistischen Zeiten Kaffee, Nylonstrümpfe und moderne Jeanshosen nach Italien.
Boza Mozetic zog die Arbeit nach Gorizia. Fast 15 Jahre war die Slowenin im Nachbarland tätig, bevor sie nun in Nova Gorica ein Immobilienbüro eröffnet hat. Junge Italiener fragen bei ihr nach Wohnungen in Slowenien, wo die Lebenshaltungskosten, Restaurant-, Zigaretten- und Spritpreise niedriger sind. Und Slowenen erwerben Immobilien in Italien, die dort rund ein Drittel weniger kosten, oft bei besserer Qualität. Dennoch sei solch ein Umzug nicht jedermanns Sache, erzählt die Mittfünfzigerin mit der gepflegten roten Kurzhaarfrisur: „Denn die Grenze in den Köpfen besteht immer noch.“
Während Boza Mozetics Eltern noch einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg höchstens vier Mal pro Monat nach Italien durften, seien die Reisebestimmungen in den 1970er Jahren gelockert worden. Tägliche Besuche im Nachbarland waren fortan möglich. „Trotz Sozialismus war diese Grenze für uns immer das Fenster zur großen, weiten Welt“, erzählt Boza Mozetic. In Italien habe man sich über die neuesten Modetrends, aber auch kulinarische oder technische Entwicklungen informiert. „Und damit waren wir hier an der Grenze oft näher am Puls der Zeit als die Menschen in der Hauptstadt Ljubljana.“ Mit der Unabhängigkeit Sloweniens vom Vielvölkerstaat Jugoslawien 1991 entstanden jedoch eigene Einkaufszentren im ganzen Land. Man fahre nicht mehr nach Italien, sondern kaufe heute in Nova Gorica oder Ljubljana ein. Den italienischen Händlern sei daher über Nacht ein enormer Markt weggebrochen, so Boza Mozetic.
Stattdessen fahren heute immer mehr Menschen zum Arbeiten über die Grenze: Die Slowenen heuern in Italien als Fahrer oder Industriearbeiter an, viele auch illegal als Haushaltshilfen. Und die italienischen Arbeiter haben längst entdeckt, dass es um Nova Gorica wirtschaftlich gar nicht so schlecht bestellt ist, mit Möbelfabrik, Autoelektrik- und Zementwerk. Sechs Prozent Arbeitslose habe es bis vor kurzem auf der slowenischen Seite der Grenze gegeben, schätzt Bürgermeister Brulc. Nun seien vielleicht zehn Prozent der Menschen ohne Arbeit, wegen der Wirtschaftskrise.
Ein gemeinsamer Bus, der auf slowenischer Seite kostenlos ist, verbindet die beiden Städte miteinander. Wer krank wird, kann sich aufgrund eines Abkommens aussuchen, ob er im italienischen oder slowenischen Krankenhaus behandelt werden möchte. Und wer ein Theaterabo in Nova Gorica erworben hat, bekommt von den Bühnen in Gorizia erhebliche Rabatte eingeräumt. Überhaupt ist die Zusammenarbeit im Kulturbereich rege. Dafür sorgen ein italienischer Kulturverband auf slowenischem Boden sowie zwei slowenische Kulturzentren in Gorizia. Man trifft sich zum gemeinsamen Marathon, Radfahren oder zur Schatzsuche mit dem Auto – natürlich grenzüberschreitend.
Die Zusammenarbeit der beiden Städte sei nichts Neues, dieser Prozess habe bereits vor drei Jahrzehnten eingesetzt, sagt Ettore Romoli, konservativer Bürgermeister von Gorizia. Romoli lehnt sich in einem Polstersessel mit barocken Holzfüßen zurück und fährt sich durchs schlohweiße Haar. Eine Explosion habe es im Hinblick auf die bilateralen Beziehungen jedoch nicht gegeben. „Es ist eine Annäherung, die sich langsam entwickelt“, so Romoli. Mit dem EU-Beitritt Sloweniens habe sich zwar einiges intensiviert. Entscheidender sei jedoch das Inkrafttreten des Schengener Abkommens im Dezember 2007 gewesen. Trotz der Zugehörigkeit zur Europäischen Union musste bis zu diesem Zeitpunkt an den Grenzübergängen angehalten werden. Seit dem Schengen-Beitritt kann jeder einfach über die Grenze fahren und sich frei bewegen, ohne Kontrollen. Dennoch schrecken scheinbar viele Bewohner von Gorizia vor einem Besuch in Slowenien zurück. Jeder Vierte sei noch nicht da gewesen, habe man herausgefunden, sagt Bürgermeister Brulc.
Nova Gorica und Gorizia: Zwei ungleiche Städte, die nebeneinander gewachsen sind. Oder vielmehr eine Stadt, deren weiteres Schicksal mit den „Pariser Verträgen“ 1947 am Verhandlungstisch besiegelt wurde. Denn die Grenzziehung nach dem Zweiten Weltkrieg führte dazu, dass Nova Gorica, das „Neue Görz“, empor gezogen wurde – da das alte Görz auf italienischem Gebiet geblieben war. Nur das Bahnhofsgebäude, das 1945 von jugoslawischen Partisanen besetzt worden war, sowie ein kleinerer Teil der Stadt gingen an Jugoslawien über, der Großteil der Stadt wurde Italien zugesprochen.
Das alte Görz/Gorizia, das seit dem Spätmittelalter Sitz des gleichnamigen Tiroler Grafengeschlechts Görz war, ist historisch gewachsen. Eine Gegend, in der traditionell Italienisch, Slowenisch, Deutsch und Furlanisch gesprochen wird. Eine Stadt mit tausendjähriger Geschichte, trutzigem Schloss über der Altstadt, eleganten Palästen, Herrenhäusern, alten Kirchen und engen Gassen. Und entlang der Via Italia trifft man sich abends an den Stehtischen vor den Bars, um gesehen zu werden. Gorizia, das mit seinen 36.000 Einwohnern doppelt so groß wie Nova Gorica ist, versprüht mediterranes Flair.
Auf der anderen Seite der Bahnlinie erhebt sich unterdessen Nova Gorica, eine Planstadt vom Reißbrett, die im Vorjahr gerade mal ihren 60. Geburtstag feierte. Mit viel Enthusiasmus und noch mehr Beton rückten in den Nachkriegsjahren Arbeiterbrigaden aus ganz Jugoslawien an. Buchstäblich auf der grünen Wiese wuchsen gesichtslose Wohnblocks empor. Eine sozialistische Utopie, mit Wohnungen und Arbeit für alle, wurde an der westlichen Peripherie Jugoslawiens verwirklicht. Das entsprechend gesichtslose Zentrum bilden Rathaus, Bibliothek und Theater, die sich um einen freien Platz gruppieren. Die malerischen Hügel in der Umgebung stimmen umso versöhnlicher. Auf einem von ihnen thront ein Franziskanerkloster: Hier fand der letzte französische Herrscher, Karl X. seine letzte Ruhe, nachdem er 1836 während eines Aufenthalts in Görz erkrankt und verstorben war.
Der Hauptplatz des alten italienischen Städtchens Gorizia. Foto: Veronika Wengert
In Nova Gorica setzt man heute allerdings nicht nur auf die malerischen Rebhügel des umliegenden Vipavatals, sondern vor allem auf Fortuna. Und auf jene gut betuchte Touristen aus Italien, die dem Glücksspiel zugeneigt sind. Wer es eilig hat, hält gleich im Drive-Inn-Casino direkt hinter dem verlassenen großen Grenzübergang. Das Casino Perla ist unterdessen bei spielfreudigen Italienern fast zu einem Synonym für die gesamte Stadt geworden: Ein Segelschiff aus Beton und Glas. Innen verirrt sich der Gast in einem Labyrinth aus 1.008 Spielautomaten und Pokertischen, die ihm den Ruf des größten Casinos in Europa eingebracht haben. Und in den Restaurants des Perla kredenzen preisgekrönte Köche feine Speisen mit Rosenblättern. Denn die Rose ist Symbol der Stadt und wurde früher auch an den Hof nach Wien geliefert.
In Italien werde Nova Gorica allerdings oft nur „Slo Vegas“ genannt, in Anlehnung an die US-Glücksspielmetropole Las Vegas, erzählt Lavra Persolja, Marketing-Expertin des Perla. Überhaupt lebe man zu über 90 Prozent von den Italienern, die trotz Krise zahlreich nach Nova Gorica strömen. Nur bei der Höhe der Einsätze seien diese zurückhaltender geworden. Allein im Perla waren es im Vorjahr 800.000 Gäste, fast alle aus dem Nachbarland. Und damit diese sich wie zu Hause fühlen, werden italienische Superstars wie Al Bano oder Toto Cotugno auf die Showbühne eingeflogen. Ein Stück Italien – in Slowenien, rund um die Uhr.
Veronika Wengert
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