Polen

Europhoriker und Euroskeptiker

Gozdnica und Godziszow haben 2003 fast einstimmig für und gegen den EU-Beitritt Polens gestimmt. Heute sind die Stimmverteilungen nicht mehr so eindeutig

(n-ost) – Irmina, Ewa und Lukasz aus dem Europaclub in der Gozdnicer Oberschule besorgen Preise für ihr EU-Quiz. Das ist ihr Beitrag zum Fest anlässlich des 5. Jahrestages des polnischen EU-Beitritts. Währenddessen bespricht Zdzislaw Plazniak, der Bürgermeister des westpolnischen Gozdnica, mit den Kollegen der Partnerstädte den Ablauf des mehrtägigen Jubiläums. Der Jahrestag des EU-Betritts am 1. Mai wird in Gozdnica immer groß gefeiert. „Wir sind die einzige Gemeinde in Polen, die das so macht“, sagt der Bürgermeister stolz.

Zur gleichen Zeit im ostpolnischen Godziszow: Dort beschäftigen sich die Schüler mit ihren Abschlussexamen und der Feldarbeit auf den Äckern ihrer Eltern. Eine EU-Feier steht nicht an. „Unsere Jugendlichen kommen an diese Idee nicht heran“, sagt Schuleiter Andrzej Olech und lacht. Das Jubiläum verbringt er, zugleich Gemeindevorsteher, in Rom. „Nein, keine Pilgerfahrt“, wehrt er ab. Einfach ein verdienter Kurzurlaub während des langen Wochenendes.

Gozdnica und Godziszow liegen an zwei verschiedenen Enden Polens. Voneinander haben sie noch nie etwas gehört. Bis zum EU-Beitritt Polens. Ausgerechnet die Europäische Union hat die Gemeinden berühmt gemacht. Nach dem Volksentscheid über den EU-Beitritt 2003 stürmten Journalisten aus der ganzen Welt in diese Orte. Sie lernten die so ähnlich klingenden Namen zu unterscheiden. Denn im westpolnischen Gozdnica votierten 95 Prozent der Bevölkerung für den EU-Beitritt, während waren 88 Prozent der Bewohner des ostpolnischen Godziszow dagegen waren. Rekordergebnisse.


Die Schüler im westpolnischen Gozdnica bereiten ein EU-Quiz für die Feierlichkeiten vor. Foto: Agnieszka Hreczuk

„Der EU-Beitritt war eine Chance“, sagt heute Zdzislaw Plaziak, Bürgermeister von Gozdnica in Westpolen, der Gemeinde der EU-Enthusiasten. Er selbst hat mit „Ja“ votiert. Damals war er noch kein Bürgermeister und wie andere vom langsamen Untergang der Stadt betroffen. So kann man die Situation der 4000-Seelen Stadt im Lebuser Land bezeichnen. Bis zur Grenze mit Deutschland sind es acht Kilometer Luftlinie, 15 zum nächsten Grenzübergang. In Berlin ist man schneller als in Warschau, sagen die Bewohner. Eine Rabe ist das Wappenzeichen der Stadt, ein Schornstein würde besser passen. Denn die sind überall.

Als Gozdnica noch ein Dorf war und Freiwaldau hieß, entstand dort die erste Dachziegelfabrik. Die Ziegel steckten später im Dach des Leipziger Bahnhofs und in einer Kirche auf dem Ölberg. Fast 200 Jahre lang ließ die Baukeramikindustrie die Gemeinde wachsen. In den besten Zeiten arbeiteten dort 2.000 Menschen. Heute herrscht in den meisten Fabriken nur noch der Wind. Veraltet und wettbewerbsunfähig war die Produktion plötzlich, als die Globalisierung voranschritt. Andere Industrien gibt es in der Gemeinde nicht. Landwirtschaft auch nicht. Die Verzweiflung wuchs. „Gozdnica brauchte eine Rettung“, sagt Plaziak. Die Leute glaubten, dass es schlimmer nicht werden könnte.

„Wir haben keine Rettung gesucht“, sagt Andrzej Olech, Gemeindevorsteher im ostpolnischen Godziszow, seit zehn Jahren im Amt. Die Dorfgemeinde mit 4000 Einwohnern gilt als Teil der „Ostwand“. Ein Name, der mit Armut, Rückständigkeit und Provinzialität assoziiert wird. Olech muss lange erklären, dass es in Godziszow anders war. Die Situation war nicht besonders gut, aber beklagen konnte sich niemand. Und wenn Menschen nicht verzweifelt sind, dann dürfen sie skeptischer sein, erklärt Olech. Eigentlich nutzt er das Wort Skepsis kaum. Eher Vernunft und Realismus. So seien die Bauern aus der Gegend.

„Und als sie aus den Medien ständig nur Hurra-Optimismus über den Beitritt hörten, sind sie misstrauisch geworden“, sagt Pfarrer Zdzislaw Krawczyk, seit elf Jahren in Godziszow. „Niemand hat die Leute hier aufgeklärt, was die Europäische Union ist.“ Bauern hätten nicht gewusst, ob das Neue ihre Werte zerstört. Oft hätten sie genau das im Westen gesehen, sagt Krawczyk. Die starke Ablehnung des Beitritts überraschte Olech deshalb damals kaum, vielleicht nur, dass das Ergebnis so hoch war. Richtig schockiert war er allerdings darüber, wie über seine Gemeinde berichtet worden ist. „Wir wurden damals als zurückgeblieben dargestellt – blöde Bauern, die gar keine Ahnung haben“, erzählt er und ist heute noch sauer.  „Dabei haben wir nur demokratisch unsere Meinung geäußert.“


Zdzislaw Plazniak plant die Feier zum fünften Jubiläum des EU-Beitritts. Foto: Agnieszka Hreczuk

Das haben auch die Menschen im EU-euphorischen Gozdnica mit 95 Prozent Zustimmung getan. Grund zur Euphorie gibt es heute jedoch nicht mehr so viel. In der Stadt stehen noch immer verfallene Wohnblocks und renovierungsbedürftige Häuser. Davon heben sich wie einzelne, bunte Pastellpunkte das frisch renovierte Kulturzentrum, die Kirche, Feuerwache, das Gemeindeamt und die Grundschule ab. Geld für die Renovierung in Mintgrün und die Wärmedämmung habe die Grundschule aus Warschau bekommen – als Anerkennung für das Ergebnis beim Volksentscheid, erzählt man sich in der Stadt. Ansonsten ist seit dem EU-Beitritt nicht viel passiert. Trotzdem ist der Bürgermeister, wie viele in Gozdnica, optimistisch. Immerhin wird nun die Kläranlage mit EU-Geldern gebaut. Sieben Millionen Zloty bekam Gozdnica dafür – nicht viel weniger, als der jährliche Haushalt beträgt. „Es wird immer besser bei uns.“

Die Schule am anderen Ende Polens, in Godziszow, ist etwas kleiner, aber auch renoviert, in Rosa. Und auch wärmegedämmt. „Alles aus eigenen Mitteln“, betont der Schulleiter. Von der EU gab es Computer, alles andere hat die Gemeinde selbst gemacht. Auch in weiteren fünf Schulen. Nicht, dass sich Godziszow nicht um EU-Gelder bewirbt. Die Straße wollten sie ausbauen und eine Sporthalle errichten. Aber das alles hat die EU auf eine Warteliste gesetzt. Die EU sei eben doch nicht so reich, war die Schlussfolgerung. Also machte die Gemeinde so weiter wie vorher. Selbst. Mit Erfolg. Alle Häuser in Godziszow sind saniert. Vor den Haustüren stehen Mittelklassewagen westlicher Marken. Mittags sind die Straßen leer. Die meisten Bewohner sind auf dem Acker. In dem Ort gab es nie Industrie, 70 Prozent der Fläche sind Acker. Keine Fabrikschornsteine, dafür aber Buchweizen und Honig.

Henryk Bres aus Godziszow, Buchweizen- und Bienenzüchter, hat 2003 mit Nein gestimmt. „Nicht gegen die EU“, betont er sofort. Gegen die Bedingungen, die die polnische Regierung für den Beitritt ausgehandelt hatte, habe er gestimmt, verrät der 55-Jährige. „Bei den Zuschlägen bekommen wir nur die Hälfte von dem, was die Bauern im Westen bekommen. Doch die Kosten, die wir tragen, sind die gleichen“, ist er überzeugt. Viele aus dem regionalen Imkerkreis hätten schon aufgegeben, erzählt Bres. „So, wie wir in der EU behandelt werden, wie arme Verwandte, das gefällt mir nicht.“ Seine Ängste haben sich bestätigt.


Für Jan Bres aus dem ostpolnischen Godziszow haben sich viele Ängste in Bezug auf die EU bestätigt. Foto: Agnieszka Hreczuk

Maciej Rosner hatte auch vor der EU Angst. Er ist einer der wenigen im westpolnischen Gozdnica, der mit Nein votiert hat. Der 37-jährige Unternehmer hatte Angst, dass Polen in der EU nicht gleichberechtigt behandelt wird. „Das hat sich als vollkommen falsch entpuppt“, stellt Rosner heute fest. Sein Familienbetrieb arbeitet auf Hochtouren. Bis 2004 lag Gozdnica am Rande des polnischen Wirtschaftsraumes, findet Rosner. Dann stellte sich plötzlich heraus, dass die Nähe zu Tschechien und Deutschland für ihn ein enormer Vorteil ist. Die Hälfte seiner Produktion schickt Rosner ins Ausland, meistens nach Deutschland, aber auch nach Belgien und Dänemark. 2003 hat er die ersten Gelder aus dem EU-Strukturfonds beantragt, für die Anpassung an die neuen Normen. Danach noch zwei Mal, wieder erfolgreich. Er kaufte neuen Maschinen, Gebäude, Land. Zwar muss Rosner immer 50 Prozent der Investitionen selbst aufbringen. Aber im Endeffekt habe es sich gelohnt. 80 Leute hat er eingestellt. Seine Firma floriert. Maciej Rosner ist heute EU-Optimist geworden.
Die Erfolgstory von Rosner ist in Gozdnica eine Ausnahme. Denn die Gozdnicer EU-Optimisten profitieren überraschend wenig von der Osterweiterung. Zumindest finanziell.  „Viele haben erwartet, dass Investoren, vor allem aus dem Ausland zu uns ziehen und neue Arbeitsplätze entstehen“, gibt der Bürgermeister zu. Daraus wurde nichts. Die schlechte Infrastruktur ermutigen nicht gerade dazu. Die Arbeitslosigkeit wuchs auf 40 Prozent. Weil die Arbeit nicht zu ihnen kam, suchten sie sie im Ausland. Nach der Osterweiterung noch viel stärker. Nach Irland, Großbritannien, Belgien, seltener nach Deutschland gehen sie nun, um zu arbeiten. Deshalb ist die Akzeptanz für die EU in Gozdnica noch so hoch. Trotz der vielen „EU-Waisen“, Kinder, deren Eltern im Ausland arbeiten. Von 130 Oberschülern sind knapp 40 von nur einem Elternteil, viele sogar von anderen Familienmitgliedern großgezogen worden.

Ewa aus der Gozdnicer Oberschule weiß schon, was sie in einem Jahr macht. Sie verlässt Gozdnica und fährt zu ihrem Vater, der in Belgien arbeitet. Dort wird sie wohl ein Gymnasium besuchen. Grenzen sind ihr und ihren Mitschülern fremd. Über diese Neuerung seit dem EU-Beitritt freuen sie sich am meisten. „Nach Dresden können sie genauso einfach fahren wie nach Breslau“, sagt Emilia Osinska, Lehrerin und Betreuerin des Europaclubs. „Sie denken heute häufiger regional als national. Und Cottbus oder Dresden gehören mehr zu dieser Region als Warschau.“

Ins Ausland sei sie auch gefahren, in den Ferien, erzählt eine Gymnasiastin, die mit dem Bus nach der Schule zurück nach Godziszow in Ostpolen fährt. Weit war weg war das, sie haben  mehrere Städte in Frankreich und Deutschland besucht. Schön einfach und ohne Pass. Bei dem Referendum war die Gymnasiastin 13 und durfte noch nicht teilnehmen. Ihre Eltern waren dagegen, der Bruder dafür. Sie selbst, sagt sie, weiß genau, wie sie gestimmt hätte. Mit Ja. „Ich mag lange Reisen. Und die EU stört uns ja hier gar nicht.“

gniezska Hreczuk
ENDE

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