Rumänien

Illegaler Bergbau im Tal der Tränen

Langsam klettert Mihai Stoica einen steilen Hang hinauf. Auf halbem Weg kommt er an einer umgestürzten Buche vorbei, darunter klafft eine Grube. „Ein eingestürzter Stollen“, sagt Stoica lakonisch und klettert weiter. Schließlich steht er vor seinem eigenen Stollen. Um diese Jahreszeit ist es still im Wald, nur aus der Ferne dringt leise das Rauschen eines Flusses. Würde Stoica hier etwas passieren, würde ihn niemand finden.

Stoica bückt sich und läuft in den niedrigen Stollen hinein. Er ist an die acht Meter lang und völlig ungesichert. Behutsam prüft der ehemalige Bergarbeiter die Wände, dann nimmt er seinen Grubenhammer aus der Umhängetasche und beginnt, Kohle aus einer Wand zu schlagen. Als genügend auf dem Boden liegt, füllt er sie in einen Plastiksack. Immer wieder hält er für einige Augenblicke inne, um auf Geräusche in der Wand zu hören. Manchmal knirscht und knackt es leise. „Der Berg ist unberechenbar“, sagt Stoica. An Hals und Kinn haben Arbeitsunfälle Narben hinterlassen.

Am Rande des westrumänischen Schiltals lagern in den Bergen manche Steinkohleflöze bis fast an die Erdoberfläche. Mihai Stoica hat hier „seine“ Lagerstätte für Kohle entdeckt. Bis zur reinen Steinkohle musste sich Stoica durch einen Meter Erde und Schiefergestein graben. Anderthalb Tonnen hat er hier im vergangenen Herbst herausgeholt und in 40-Kilogramm-Säcken auf seinem klapprigen Fahrrad nach Hause gekarrt.

Der Mittdreißiger heißt in Wirklichkeit anders. Er hat Angst, seinen wahren Namen zu nennen, denn was er hier macht, ist nicht nur lebensgefährlich, sondern auch illegal. Doch Stoica geht das Risiko ein, damit er, seine Frau und seine drei Kinder im Winter nicht erfrieren. „Holz ist sehr teuer, wir haben kein Geld dafür“, sagt Stoica, dessen Familie mit umgerechnet fünfzig Euro Sozialhilfe und Kindergeld im Monat leben muss.

Das Schiltal liegt idyllisch eingebettet in die wilden, bis zu zweitausend Meter hohen Karpatengipfel. Doch die Gegend ist keine Urlaubsregion - in den Plattenbaughettos herrscht sozialer Notstand. Der Bergbau rentiert sich nicht mehr, die Entlassenen sind auf sich selbst gestellt. Hilfe vom Staat gibt es nicht.

In der Ceausescu-Zeit förderten hier 50.000 Bergarbeiter Steinkohle. Die zumeist ungelernten Arbeiter waren aus allen Landesteilen gekommen, angelockt von hohen Löhnen, denn Ceausescu benötigte viel Kohle für seine Metallkombinate und Kraftwerke.

Nach dem Sturz des Diktators waren die Kumpel zunächst noch eine verhätschelte Klientel der herrschenden Wendekommunisten. Doch ab 1997 wurden die ersten Zechen stillgelegt. Zwei Jahre später brachte eine Bergarbeiterrevolte Rumänien an den Rand des Ausnahmezustandes: Tausende verzweifelte Kumpel marschierten gen Bukarest, um die Regierung zu stürzen. Die Machthaber ließen Panzer auffahren, nur knapp entging Rumänien blutigen Auseinandersetzungen. Für kurze Zeit erhielten die Bergarbeiter noch einmal eine Gnadenfrist, dann wurde die Zechenschließung fortgesetzt.

Heute arbeiten im Schiltal nur mehr 6.000 Kumpel in sieben verbliebenen Steinkohlezechen. Bis 2018 will der Staat auch sie schließen. Langfristige Sozialprogramme gab und gibt es nicht. Doch die entlassenen Bergarbeiter und ihre Familien revoltieren heute nicht mehr. Sie siechen in den heruntergekommenen Wohnghettos vor sich hin.

Ein tragische und zugleich absurde Situation angesichts der Möglichkeiten, die Rumänien zur Armutsbekämpfung hätte: Aus EU-Töpfen stehen dem Land viele Milliarden Euro Fördergelder zur Verfügung, gerade auch für Regionalentwicklung und Wirtschaftsförderung. Doch Rumänien nutzt das Geld bisher kaum – unter allen osteuropäischen EU-Ländern ist es das Schlusslicht bei der regelkonformen Beantragung von Projektförderung. Die Auszahlungsfrist läuft bis 2015, dann verfallen nicht genutzte Beträge.

Bitterste Armut, Menschen, die auf eigene Faust nach Kohle graben – das gab es im Schiltal zuletzt in der Zwischenkriegszeit. Mihai Stoica hat vor zwei Jahren angefangen zu graben, zusammen mit einem Freund, auch er ehemaliger Bergarbeiter. Sie kennen sich aus, dennoch ist das Risiko sehr hoch. Etwas oberhalb von Stoicas Stollen wurde im letzten Winter ein Bekannter verschüttet. Er brach sich beide Beine und konnte sich nur mit Mühe befreien. „Er hat immer noch Gesundheitsprobleme“, sagt Stoica, „seine Knie sind kaputt, so ganz wird er sich wohl nie mehr erholen.“

Wieder knirscht es im Gestein. Stoica horcht auf, dann sagt er: „Raus hier jetzt, es ist zu gefährlich.“ Der Sack ist nur halbvoll, Stoica verschnürt ihn, stellt ihn in eine Plastikwanne und lässt sie den Abhang herunterrutschen. Dann steigt er selbst hinab.

Stoica stammt ursprünglich aus einem Dorf in Südrumänien, seine Eltern waren arme Bauern und hatten neun Kinder. 1992 ging er ins Schiltal, ins Städtchen Uricani, da war er gerade achtzehn. Er fing im örtlichen Bergwerk an, damals arbeiteten dort 4.500 Kumpel. 1997 erlitt er bei einem Grubenunglück eine Kohlenmonoxid-Vergiftung und überlebte nur knapp. Seine Frau drängte ihn zu kündigen. Die Regierung hatte gerade begonnen, Zechen im Schiltal zu schließen und zahlte relativ großzügige Abfindungen. Stoica kündigte. „Sie haben versprochen, dass sie Arbeitsplätze schaffen, in Möbelfabriken und im Tourismus“, erinnert er sich, „alles sollte viel besser werden.“

Von der Abfindung bezahlten die Stoicas ihre Schulden beim Elektrizitätsunternehmen und kauften einen neuen Kühlschrank. Eine dauerhafte Arbeit fand Stoica nicht, seine Familie hielt er mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Er war schon Verkäufer und Straßenfeger, Tagelöhner bei Bauern und Hilfsarbeiter auf dem Bau, sammelte Pilze und Waldfrüchte. Ein Schicksal, das er mit vielen anderen teilt. In der Zeche Uricani arbeiten noch 830 Leute, die Arbeitslosigkeit im Städtchen liegt bei 70 Prozent. „Ich habe all den Versprechungen damals geglaubt“, sagt Stoica, „heute bedauere ich, dass ich gekündigt habe.“

Die Stoicas wohnen in einem der vielen verwahrlosten Fünfziger-Jahre-Wohnblocks von Uricani. Einst sollte das Viertel im Stil des Stalin-Barocks eine lichte Zukunft verheißen. Übriggeblieben sind bröckelnde Fassaden, Dächer, durch die es hineinregnet, innen Schwamm und Schimmel.

Auch in der Zwei-Zimmer-Wohnung der Stoicas riecht es nach Schimmel. Es sieht aus, als sei die Familie hier nur vorübergehend untergebracht. Es gibt ein Bett, ein paar Stühle, einen Tisch, einen Fernseher, die Wände sind ohne Bilder, der Flur hat keine Garderobe. Der 5-jährige Sohn schläft mit seinen Eltern im schmalen Ehebett, die 12-jährige Tochter und ihr 8-jähriger Bruder klappen jeden Abend die Couch im Wohnzimmer auseinander.

Stoicas Frau Ioana steht am Herd und frittiert Kartoffelspalten, an diesem Tag das Mittagessen. Lächelnd und mit stolzem Gleichmut spricht sie über ihr Leben. „Viele nennen das Schiltal auch Tal der Tränen“, sagt sie, „aber wir können uns eben nicht aussuchen, wo wir leben. Eigentlich möchten wir unseren Kindern eine gute Bildung bieten, aber weiter als bis zum jeweiligen Tag können wir nicht denken.“

Es hat zu regnen begonnen. Mihai Stoica geht in den Keller und holt Kohle zum Heizen. In einem kleinen Verschlag lagert, was er aus dem Berg geholt hat, rohe Steinkohle, viele kleine fett glänzende Stückchen, viel Staub. Stoica schaufelt einen Eimer voll und legt noch ein paar Holzspäne dazu.

Oben, im Ofen, glimmt bald ein Kohlefeuer. Manchmal, wenn die Stoicas kein Geld haben, um eine neue Füllung ihrer Propangasflasche zu bezahlen, kochen sie in der Backröhre des Ofens. Mihai Stoica will versuchen, in Spanien Arbeit in der Landwirtschaft zu finden, aber er weiß nicht, wie er das Fahrtgeld zusammen bekommen soll. „Es sind schwere Zeiten“, sagt er. „Die soziale Sicherheit der Leute zählt überhaupt nichts mehr. Es wurde so viel versprochen und nichts getan. Wir fühlen uns betrogen.“


Die „Nationale Steinkohle-Gesellschaft“ (CNH), die im Schiltal die Steinkohlezechen betreibt, steht seit fast zwei Jahrzehnten an der Spitze der defizitären, rumänischen Staatsunternehmen. Trotz mehrfachem Schuldenerlass in den 1990er Jahren arbeitet die CNH bis heute unrentabel. Letztes Jahr erwirtschaftete das Unternehmen einen Verlust von umgerechnet 160 Millionen Euro, die Gesamtschulden der CNH an den Staat betragen rund 1,3 Milliarden Euro.

Laut der im Dezember 2010 vom EU-Ministerrat beschlossenen Regelung für Steinkohlebeihilfen in der Europäischen Union müssen die Subventionen für den Steinkohlebergbau in den kommenden Jahren schrittweise abgebaut werden und ab 2018 ganz abgeschafft werden. Das betrifft neben Steinkohlebergwerken in Deutschland und Spanien auch die rumänischen Zechen.

Seit zwei Jahren verhandelt die CNH mit chinesischen Investoren über einen Verkauf und eine Privatisierung der Zechen, bisher ohne Erfolg.


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