Das gute Ghetto
Am Gandhi-Gymnasium im ungarischen Pécs lernen 250 Roma-Schüler – mit großem Erfolg
(n-ost) - Eine Blocksiedlung im Osten der südwestungarischen Stadt Pécs. Mittendrin ein kleiner Supermarkt. Verhärmte Menschen in abgewetzten Turnhosen und ehemals weißen Pumps sind die Kunden. Schnaps kaufen sie vor allem, ein bisschen Brot, Zigaretten. Die Einkaufstaschen baumeln wenig gefüllt am Arm. Nach 1989 sind die Bergwerke der Stadt Pleite gegangen, auch die Porzellanmanufaktur ist wegen der billigen Konkurrenz aus Fernost in der Dauerkrise. Tausende wurden in den 90er Jahren arbeitslos. Und die Landeswährung Forint ist wegen der Finanzkrise immer weniger wert. Schräg gegenüber dem kleinen Supermarkt sticht ein roter Ziegelbau heraus: Ein Mann mit Gehstock und Umhang ist an der Wand zu sehen – Mahatma Gandhi, der dem Gymnasium seinen Namen gibt. Er soll den indischen Ursprung aller Roma verdeutlichen. In den Gängen hängt schon der durchdringende Geruch des Mittagessens – es wird Krautwickel geben. Schüler laufen durch die Gänge des Altbaus, während nur ein paar Gehminuten entfernt andere Schüler in der nagelneuen Turnhalle gegen ein anderes Gymnasium aus der Stadt im Handball antreten. Eine altersschwache Klingel ruft zum Unterricht. Geschichtsstunde. Es geht um die römische res publica. „Ich habe Eure Arbeiten korrigiert, Ihr habt sehr gut gearbeitet“, lobt die Lehrerin. Die Schüler – alle junge Roma – strahlen. Ein paar Teenager kichern. Viele Finger gehen hoch in dieser Stunde. Die Schüler sind gut vorbereitet auf römische Gesetzgebung und das, was die Römische Republik zusammengehalten hat. Aber auf dem Lehrplan steht nicht nur die Geschichte Roms, sondern auch die Geschichte ihrer Volksgruppe, der Roma. Auch die beiden ungarischen Roma-Sprachen Beás und Lovári sind Pflichtfächer. „Es ist wichtig, dass die Schüler ihre Kultur, ihre Literatur kennenlernen“, sagt der 28-jährige Lehrer Csaba Lakatos. Er unterrichtet die Romasprache Lovári. Früher hat er selbst hier die Schulbank gedrückt, er gehört zu den Absolventen des ersten Abiturjahrgangs.Sein Schüler, Richard Kalányos, wird nächstes Jahr den Schulabschluss machen. Er hat schon zu Hause Beás gesprochen. Aber wenn er seine Eltern jetzt am Wochenende besucht, spricht er Ungarisch. „Meine kleine Schwester soll sich an Ungarisch gewöhnen, um in der Schule klarzukommen“, sagt der 18-Jährige. Richard Kalányos stammt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Kaposvár. Dorthin will er aber nicht zurück. „Nach dem Abitur will ich Medizin studieren, hier in Pécs“, erklärt er bestimmt. Sein Berufsziel: Er will Unfallchirurg werden. Das ist für einen Roma nicht selbstverständlich. „Aus meiner Familie hat es keines der Kinder beruflich zu etwas gebracht“, sagt Kalányos, der beteuert, dass seine Noten – auch dank der Unterstützung seiner Lehrer – ihm den Einstieg in die Uni ermöglichen werden. „Ich will beweisen, dass wir Roma nicht nur klauen – wie viele glauben -, sondern lernen können“.
Die meisten der 250 Schüler kommen aus armen Familien, in denen Bildung kaum eine Rolle spielt. Foto: Stephan Ozsváth
Nur ein Prozent der etwa 600.000 ungarischen Roma schafft diesen Sprung in die Elite der Akademiker. Roma waren die ersten, die nach der Wende ihre Jobs verloren. In vielen Roma-Familien geht es deshalb darum, möglichst schnell Geld zu verdienen. Zeit für Bildung ist da nicht vorgesehen. „Als ich mit der Schule fertig war und weiter studieren wollte“, erzählt Csaba Lakatos, „hat meine Mutter gefragt, wozu das denn gut sei, jetzt noch mehr zu lernen.“ Mittlerweile, sagt er, ist seine vielköpfige Familie stolz auf ihn. Und das Virus Bildung hat auch andere Geschwister angesteckt. Das ist ein Ziel der Schule: Die Absolventen sollen in ihrer Gemeinschaft als Vorbilder weiter wirken, den Sinn von Bildung vorleben. „In diesen Familien finden Sie ja selten mal ein Buch“, sagt der junge Lehrer. Entsprechend groß sind auch die Vorbehalte gegenüber der Schule zunächst. „Als ich meinen Eltern sagte, dass ich hier lernen will, hat meine Mutter rundheraus nein gesagt“, beschreibt Richard Kalányos seine Erfahrungen. „Sie hatte einfach Angst, mich in die Stadt ziehen zu lassen“, sagt der 18-Jährige, der wie die meisten der etwa 250 Schüler im Internat wohnt. Ein Tag der offenen Tür habe seine Eltern dann überzeugt, ihn gehen zu lassen. Auch regelmäßige Hausbesuche der Lehrer bei den Familien dienen dazu, Widerstände abzubauen. „Ich war bestimmt schon in 200 Familien“, sagt der Lehrer. Der Draht der Schüler zu den Familien bleibt in der Regel eng. Dass im Unterricht schon mal ein Handy bimmelt, sei normal, erzählt Csaba Lakatos. Am Wochenende fahren die Schüler meist zu ihren Eltern auf die Dörfer. „Da knallt es dann aber auch öfter mal“, weiß die Deutsche Karin Adamik zu berichten, „denn die Schüler kommen aus einer heilen in eine weniger heile Welt zurück“. Weltbilder prallten dann aufeinander. Die meisten Schüler kämen aus bitterarmen Familien, erzählt die Lehrerin, die im Gandhi-Gymnasium die Fortbildung der Lehrer organisiert und die Öffentlichkeitsarbeit für die Schule macht. Deshalb wird auch mehr als ein Auge zugedrückt, wenn immer wieder Wörterbücher aus der Bibliothek verschwinden. „Hauptsache, sie lernen“, sagt die 68-Jährige achselzuckend. Der Erfolg gibt ihr recht: Die Abbrecherquote sinkt stetig, zwei Drittel der Schüler studieren nach dem Abitur weiter. Richard Kársai hatte es zunächst nicht so leicht mit seinen Schülern.. Der 39-jährige Deutschlehrer und Leiter des Internats ist kein Roma, musste sich erst das Vertrauen der Schüler erwerben. „Heute sagen sie, dass ich eigentlich ein Zigeuner sei“, erzählt er in fließendem Deutsch und schließt die Tür zum Mädchentrakt des Internats auf. „Es darf jetzt keiner hier sein, denn es ist Unterricht“, sagt er. Auch ungewollte Schwangerschaften will hier keiner. Er öffnet die Tür zu einem Vierbett-Zimmer. „Achtung, jetzt sehen wir die Realität“, lacht er und gibt den Blick frei auf ungemachte Etagen-Betten. An den Wänden hängen Poster von Popstars und Schauspielern. Ein paar Klamotten liegen herum. „Gar nicht so schlimm“, findet Kársai und schließt die Tür. Die krächzende Klingel ertönt wieder. Pause. Vor dem Schülercafé spielen Jungen und Mädchen ausgelassen Tischfussball. Nachmittags können sie sich in einem Computerraum, in der mit Unterstützung des Budapester Goethe-Instituts aufgebauten Bibliothek oder in einem Handwerksraum beschäftigen. Die Räume tragen die Namen berühmter Roma-Persönlichkeiten wie den des Jazz-Gitarristen Django Reinhardt. Die Schüler sollen so lernen, Stolz zu entwickeln. „Wir wollen zwei Dinge miteinander verbinden“, erklärt Schulleiterin Erika Csovcsics, „den Schülern ein Bewusstsein als Roma und als ungarische Staatsbürger zu vermitteln“. Die 45-jährige Csovcsics ist die Witwe des Schulgründers János Bogdán, der vor zehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam. Der Roma-Intellektuelle hatte die Schule unter anderem mit Unterstützung der Budapester Soros-Stiftung vor 15 Jahren ins Leben gerufen. Sie wird heute mit jährlich 1,5 Millionen Euro vom ungarischen Staat und durch Spendengelder finanziert. Das erregt den Neid der anderen Schulleiter. Um den nicht zusätzlich anzuheizen, „bewerben wir uns gar nicht erst auf Projektausschreibungen“, beschreibt Csovcsics die sensible Gratwanderung. Die rechtskonservative Regierung Orbán (1998-2002) hatte versucht, die Schule zu schließen. Ohne Erfolg. Manche Kritiker sagen: Die Schule sei ein Roma-Ghetto – wenn auch ein positives.
Schulleiterin Erika Csovcsics führt die Arbeit ihres Ehemannes weiter, der das Gymnasium gegründet hat. Foto: Stephan Ozsváth„Ja sicher“, stimmt die 25-jährige Sozialarbeiterin Eszter Scheich zu. Aber die Schüler machten eben auch eine wichtige Erfahrung mit dem Personal – insgesamt etwa 80 Angestellte aus aller Welt. „Sie merken: Es gibt hier Nicht-Roma, die sich für Roma-Belange einsetzen.“ Der junge Richard Kalányos nickt. „Hier machen die Lehrer keinen Unterschied“, sagt er, „wenn einer eine etwas dunklere Hautfarbe hat.“ Das widerspricht der momentanen Grundstimmung im Land. Scheich lässt ein Video laufen, dass sie sich gerade aus dem Internet heruntergeladen hat: Harte Gitarren und Hass-Texte, garniert mit Bildern ungarischer Roma. „Und das geht jetzt viereinhalb Minuten lang so“, sagt die Sozialarbeiterin angewidert. Die Lieder ungarischer Nazi-Rockbands liefern den Soundtrack zu einer üblen Stimmungsmache gegen Roma. Seit fast zwei Jahren marschiert die rechtsextreme „Ungarische Garde“ durch die Roma-Viertel des Landes – trotz Verbots des Trägervereins – und verbreitet Angst und Schrecken. Antiziganismus ist weit verbreitet, es gibt immer mehr Gewalttaten, einige Mordfälle sind bis heute ungeklärt. Viele Roma sind auf Sozialhilfe angewiesen. Deshalb werden sie als „Sozialschmarotzer“ diffamiert. „Deswegen müssen wir über solche Videos mit den Schülern reden“, erklärt Eszter Scheich. „damit sie wissen, was in der großen weiten Welt draußen passiert“. Richard Kalányos, der ehrgeizige Schüler, hat schon sehr genau verstanden, wie Vorurteile entstehen, die sich die „Ungarische Garde“ als Kampf gegen sogenannte „Zigeunerkriminalität“ auf die Fahnen geschrieben hat. „Wenn einer mal was Krummes macht, wird das hochgerechnet auf uns alle“, empört er sich. Er setzt auf die Macht guter Argumente. Die Schule an sich ist offenbar eins. Im Norden Ungarns ist ein zweites Gandhi-Gymnasium geplant.
Stephan Ozsváth
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