Ukraine

Ein Leben für den Tanz

Kämpfen lernen – das musste Elena Tschinka früh. Das einzige, was sie zur Genüge hatte, war die Leidenschaft für den Tanz. Im Alter von 6 Jahren begann sie zu tanzen, seitdem ist Bewegung zu Musik Elenas wichtigster Lebensinhalt. Zuerst beherrschte sie den klassischen, dann den modernen Tanz. Zwei Tanzproben täglich, die das Mädchen in verschiedenen Studios der Stadt absolvierte, gehörten für sie zum Alltag. Nach dem Schulabschluss träumte sie von der Schauspielerei – als Ergänzung zur Tanzkunst, die sie mittlerweile nahezu perfekt beherrschte.

Elena Tschinka - die ehemalige Tänzerin / Fotos aus der Aktserie von Juri Solomko

Doch die Aufnahmeprüfung bestand sie nicht. Aber aufgeben – das war noch nie Elenas Ding. Deshalb galt für sie auch diesmal: lernen, üben, perfektionieren, Woche für Woche, Tag für Tag. Fünf Jahre hintereinander trat sie zu den Aufnahmeprüfungen an, und fünf Mal fiel sie durch. Doch sie musste Schauspielerin werden, das spürte sie. In der Zwischenzeit gab sie Ballettunterricht für Kinder, moderierte die Morgengymnastik im ukrainischen Fernsehen und wurde sogar Hauptdarstellerin in einem Spielfilm, in dem es um die Hungersnot in der Ukraine der 30er Jahre ging. Dieser Film brachte Elena ihren ersten größeren Erfolg.

1998, nach dem sechsten Anlauf, schaffte Elena im Alter von 22 Jahren die Prüfungen an der Theaterhochschule. Den Beginn ihres neuen Lebens feierte die Tänzerin zusammen mit ihrem Freund auf der Halbinsel Krim am Schwarzen Meer. Doch auf der Rückreise nach Kiew geschah der schreckliche Unfall, der Elenas so junges Leben auf einmal veränderte. Sie hatten das Abfahrtsignal für den Zug nicht gehört und hätten ihn beinahe verpasst. Elena lief dem Zug nach, fasste nach den Griffen, um aufzusteigen, und rutschte aus. Der Zug rollte über ihre Beine, und Elena verlor beide bis zu den Knien.

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Das Wichtigste im Leben sei, glaubt Tschinka, sich fortwährend weiter zu entwickeln, Fotos: Juri Solomko

Statt begeisterten Fans und stehenden Ovationen stand Elena nun ein Leben im Rollstuhl bevor – und die mitleidigen Blicke ihrer Mitmenschen? Das war es nicht, was Elena sich von ihrem Leben erträumt hatte. Ihr neuer Kampf begann: Sie lässt keinen Platz für Selbstmitleid und Tränen, keinen für Gefühle. Es darf in ihrem Leben nichts geben außer dem puren Verstand. „Vor meine Vergangenheit schob ich einen Riegel“, erinnert sich Elena. „Statt an den Unfall zu denken, erzog ich mich in der Gegenwart und ich sehnte mich nach der Zukunft.“ Sie träumt von der Rückkehr in den Tanzsaal.

Noch auf der Intensivstation beginnt Elena mit Bauch- und Stretchübungen für den Oberkörper. Beim Verbandswechsel schiebt sie sich ein Laken vor die Augen. Die halbierten Beine, die sie nicht sieht, existierten nicht. Sie sind ein Albtraum. Elenas Freund kommt noch viel weniger als Elena damit zurecht. Auf der Intensivstation sieht sie ihn zum letzten Mal. Dafür wird die Kranke mit der Liebe und Fürsorge ihrer Familie umsorgt: Mutter, Vater und Bruder und die vielen Freunde, weichen nicht von ihrer Seite.

Ihrer Mutter merkt es Elena zuerst an: Nach dem Unfall ist die Tochter um Jahre gealtert. Viel später verrät ihr die Mutter, in jenen Wochen Nächte hindurch geweint und nicht geschlafen zu haben. Doch leiden sieht die Kranke ihre Mutter nie. Im Krankenzimmer erscheint sie immer strahlend, voller Elan und Energie. Blumen, Lächeln, unterstützende Blicke, Spazierfahrten im herbstlichen Park fegen jeden Anflug von Elenas Trübsal rasch weg. „Deine einzige Aufgabe ist es, schnell gesund zu werden, alles andere übernehmen wir“, hört die junge Frau von allen Seiten. Noch im Rollstuhl sitzend erteilt sie Ballett-Unterricht für ihre Mädchen, die sie regelmäßig zu Hause besuchen. Dafür räumen Elenas Eltern ihr Wohnzimmer aus. „Wie Kinder auf meine Situation reagierten – das hat mich tief berührt und aufgeheitert! Ihre Blicke waren natürlich und die Fragen ungezwungen, keiner hat sich verstellt!“, erinnert sich Elena.

Ein halbes Jahr nach dem Unfall schenken ihre Freunde Elena teure Prothesen, die sie vom Staat nie bekommen hätte. Sechs Monate nach dem Unfall ist die junge Frau wieder auf den Beinen – nicht auf ihren eigenen zwar, aber sie kann sich selbst fortbewegen. Ihren ersten Tag auf den neuen Beinen verbringt sie mit ihren Schülerinnen – beim Üben im Tanzstudio. Danach geht sie ins Theater. Durch den Unfall hat Elena allerdings ihren Studienplatz an der Theaterhochschule verloren. Der Rektor behandelt sie wie eine Bettlerin. Seine Zusagen, Elena nach der Reha studieren zu lassen, erweisen sich als leere Worthülsen. Man sagt ihr, sie müsse die Aufnahmeprüfungen erneut ablegen.

Für Lena ist dieser Verlust beinahe schlimmer als ihr Unfall. Doch auch diesmal blickt sie nach vorn: Sie studiert Journalistik an der Universität Ukraina, wo neben gesunden auch behinderte junge Leute einen akademischen Grad erwerben können. Elenas Schicksal berührt auch andere, fremde Menschen. Der ukrainische Künstler Juri Solomko macht sie zum Objekt einer Fotoserie. Er nennt seine Aktbilderserie „Regeneration“. In seinen Bildern will der 40-jährige Künstler dem Zuschauer Elenas wahre Natur zeigen. Sie sei sein ungewöhnlichstes Modell‚ eine Frau voller Geheimnisse und verborgener Schönheiten – ganz wie die Karnevalstadt Venedig. So wie Venedig sieht Solomko auch sein Model – maskiert, doch statt einer Maske trägt Elena ihren Körper.

Das Foto-Projekt lässt die ganze Ukraine über die ehemalige Tänzerin sprechen. Solomko verbindet mit seiner ausgefallenen Galatea inzwischen eine rührende Freundschaft. „Er hat meinem Leben einen neuen Sinn verliehen“, sagt Elena. „Von ihm lernte ich täglich, wie man seine Persönlichkeit weiterentwickelt.“ Für das Modell ist das Künstlerprojekt im wahrsten Sinne des Wortes eine Regeneration. „Endlich hatte ich eine Chance, mich nicht nur als Tänzerin zu verwirklichen. Endlich war ich wieder als Schauspielerin gefragt,“ schwärmt Elena. Nach der Ausstellung, bei der der Künstler und noch viel mehr sein Modell umjubelt und von Journalisten umlagert werden, ergibt sich für Elena eine neue Perspektive. Nachdem sie als Gast in einer Talk-Show auftritt, bekommt sie einen Job als Redakteurin dieser Talk-Show angeboten.

2003 wird Elena Tschinka in ihrer Heimat mit dem alljährlich verliehenen Preis „Stolz des Landes“ ausgezeichnet. Bereits zwei Jahre später moderiert sie diese Preisverleihung persönlich. Mit ihren beiden neuen Beinen steht Elena wieder fest im Leben. Sie hat nicht nur wieder das Gehen, sondern auch ohne fremde Hilfe das Autofahren gelernt. Beim Gehen stützt sie sich auf einen Stock und hinkt dabei ganz leicht. Wenn es sein muss, lässt sie den Stock auch ganz weg. „Außer, dass ich nie wieder selbst tanzen und nie wieder Sand und Morgentau unter meinen Füßen spüren kann, bin ich hundertprozentig fit“, behauptet die inzwischen 29-Jährige von sich.

Nebenbei hat Elena ihr Journalistikstudium mit Auszeichnung absolviert. Ihren Lebensunterhalt verdient sie sich als Redakteurin. Bei der Wahl der Themen für ihre Talk Shows hat Elena freie Hand. Die meisten davon gelten Menschen wie sie selbst, die ihre Lebenskrisen gemeistert haben oder mitten drin stecken. Das Wichtigste im Leben sei, glaubt die Kiewer Lebenskünstlerin, sich fortwährend weiter zu entwickeln und zu perfektionieren und immer neue persönliche Horizonte zu entdecken – tagtäglich, pausenlos. „Ohne jenen furchtbaren Unfall – welche Person wäre ich da geworden? Damals hat mir der Herrgott eine Gabe geschenkt, mich jeden Tag geistig zu bereichern und fort zu entwickeln. Vielleicht wäre mir sonst diese Gabe versagt geblieben.“


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