Kroatien

„Als gäbe es kein Morgen“

Die grauen Bürgerhäuser in der Innenstadt von Zagreb könnten einen neuen Anstrich vertragen: Schwarze Zickzack-Graffiti an fast jeder Häuserwand, die in krassem Gegensatz zu den Stuckschnecken über den Eingangstoren der alten Wiener Baumeister stehen. Vor solch einer Fassade rangiert Dominik Musulin gerade seinen Wagen ein. Der 21-Jährige klingelt an einer Doppelflügeltür mit geschmiedeten Zierstäben. Im Treppenhaus riecht es nach Bohnerwachs. Dominik nimmt gleich zwei Stufen auf einmal, vorbei an blühenden Primeltöpfen. Und wird, oben angekommen, von seiner Mutter bereits erwartet. Die 42-jährige Blazenka Musulin hat sich ihr Anwaltsbüro hier eingerichtet: eine weitläufige Altbauwohnung mit Stuck und modernem Flachbildschirm im Warteraum, in dem die Mandanten mit westlicher Popmusik beschallt werden. Fünf Mitarbeiter beschäftigt sie mittlerweile – das Rechtsgeschäft mit Verkehrsdelikten und Unfällen scheint zu laufen.

Blazenka und ihr Sohn Dominik, Veronika Wengert, n-ost

Das sei nicht immer so gewesen, sagt Blazenka. Die politische Wende im früheren Jugoslawien habe Anfang der neunziger Jahre eine Hundertschaft von Rechtsanwälten auf den freien Markt geschwemmt. Der junge Nationalstaat Kroatien mit seinen knapp viereinhalb Millionen Einwohnern passte in ein weitaus schlankeres Verwaltungskorsett. Entsprechend hätten sich viele staatliche Behörden von ihren Anwälten getrennt – sei es nun aus verwaltungstechnischen oder politischen Gründen. Vielen sei damals nur die Freiberuflichkeit als Ausweg geblieben. Auf dem Markt war es eng, als sie ihre Kanzlei 1993 eröffnete, erzählt die Anwältin.

Dominik kennt die Berufsanfänge seiner Mutter nur aus Erzählungen. Er ist in ihre Fußstapfen getreten und studiert Jura. Das sei das Einzige gewesen, was für ihn in Frage gekommen sei, sagt er. Als Dominik im Sommer 1988 geboren wurde, trennten Blazenka noch drei Prüfungen von ihrem ersten Staatsexamen. Die wirtschaftliche Krise im Land spitzte sich zu und mündete 1989 in einer galoppierenden Inflation. Selbst für ein Laib Brot wurden auf einmal Beträge mit mehreren Nullstellen vor dem Komma fällig. Die soziale Unzufriedenheit und die zunehmenden ethnischen Spannungen ließen den Vielvölkerstaat zerbrechen, als Dominik noch ein Kleinkind war.

Was anderswo in einer friedlichen Revolution mündete, eskalierte in Jugoslawien – es kam zum Krieg, mitten in Europa. Zagreb galt als Angelpunkt, viele Menschen aus den umkämpften Landesteilen kamen in die Hauptstadt. Das Bild der Stadt habe sich seither gewandelt, sagt Blazenka. Die Studentin von früher und der Student von heute. Gibt es hier überhaupt Parallelen? Blazenka erinnert sich an Fächer wie Marxismus, mit denen die Studentenschaft auf den richtigen sozialistischen Pfad gebracht wurden sollte. Und an Volkswehr. Das sei bereits an Schulen unterrichtet worden: Das Wissen um die Verteidigung des Staates, der Ideologie oder einfach nur sich selbst. Notfalls mit Waffengewalt.

Was heute Pädagogen auf die Barrikaden treiben würde, gehörte für Blazenka und ihre Generation zum Lehrplan: Schießübungen mit einer wuchtigen russischen Kalaschnikow – und das mit gerade mal 15, 16 Jahren. Schulausflüge führten meist zu Orten, die für die Partisanen bedeutsam waren. Gotteshäuser hingegen, selbst berühmte Bauwerke wie die Kathedrale von Šibenik, wurden bei Exkursionen einfach verschwiegen. „Kirche war im öffentlichen Leben kein Thema“, erinnert sich Blazenka, die wie die meisten Kroaten katholisch ist.

Zu Hause in den eigenen vier Wänden habe man selbstverständlich christliche Feste wie Weihnachten gefeiert. Und in den Semesterferien wurde gemeinsam mit anderen Teens und Twens mit angepackt – zum Wohl der Gesellschaft. Dort, wo später einmal eine Schnellstraße entstehen sollte, ebneten hunderte junger Menschen aus ganz Jugoslawien Wiesen und Grundstücke. Bei diesen Arbeitscamps, den „radne akcije“, wurde buchstäblich Völkerfreundschaft praktiziert, da hier hunderte von jungen Menschen aus allen Teilrepubliken Jugoslawiens zusammen kamen. Tagsüber wurde gearbeitet, abends fanden Konzerte und Kinoveranstaltungen statt – die Blazenka einen Sommer lang im Organisationskomitee mit plante. Die Camps wurden sogar als Praktikum angerechnet.

Dominiks Studienzeit prägen unterdessen ganz andere Dinge: Die neuen Bologna-Bestimmungen werden gerade umgesetzt, die das kroatische Bildungssystem an das gesamteuropäische anpassen sollen. Denn schließlich hängt Kroatien in der Warteschleife auf Brüssel. Das bedeutet nun auch für die Studenten eine Umorientierung – und eine Verlängerung der Studienzeit von vier auf fünf Jahre. An seiner Fakultät sei dies jedoch gut geregelt worden, während Studenten an anderen Fakultäten ratlos gewesen seien, wann und ob ein Kolloquium zu belegen sei.

Die Semesterferien verbringt Dominik mit seinen Freunden am Meer oder auch mal beim Skifahren in Frankreich. Woanders leben? Nein, das wolle er nicht. Kroatien sei für ihn ein freies und modernes Land, in dem alles möglich sei. In den Zeitungen werde frei berichtet, es gäbe keine Informationsfilterung oder Zensur. Man könne ausgehen, Spaß haben, das Leben in Zagreb sei relativ sicher. Und zudem würden hier Freunde und Familie leben, die ihm sehr wichtig seien, sagt Dominik.

Auch wenn sich das ideologische Fähnchen im Wind gedreht hat – die Fakultät von Mutter und Sohn ist die gleiche geblieben. Sie gehört zu den beliebten Fotomotiven von Zagreb-Touristen: Ein pastellgelbes herrschaftliches Gebäude mit seitlichen Treppenaufgängen, direkt am Marschall-Tito-Platz gelegen. Ein Ort, der aufgrund seiner Namensgebung immer mal wieder die Anhänger und Gegner des ehemaligen jugoslawischen Staatschefs versammelt. Die einen fordern auf Transparenten die Beibehaltung des alten Namens, die anderen sind dagegen – und würden das Phänomen Josip Broz Tito am liebsten in der Mottenkiste der Vergangenheit verschwinden lassen. 

An solchen Protesten beteiligt sich Dominik nicht. „Das ist heute einfach Geschichte, im Bewusstsein meiner Generation ist es völlig vergessen“, sagt er. In manchen Fächern an der Schule oder Universität, aber auch mal im Fernsehen – da sei Tito ein Thema, sonst nicht. Dennoch sei er mit seiner Schulklasse vor einigen Jahren in Kumrovec gewesen: ein liebevoll gepflegtes Ethnodorf mit Maiskolben an den Dachbalken, freilaufenden Hühnern, weiß getünchten Hauswänden und Pflastersteinen. Hier wurde Tito geboren, sein Holzbett kann in einer kargen Stube noch besichtigt werden. Es sei ein netter Ausflug gewesen. Dennoch habe er keinerlei Empfindungen gehabt, weder positiv, noch negativ – da er überhaupt keinen Bezug zu Tito habe, sagt Dominik.

Den heutigen Twens bedeute die Geschichte weitaus weniger als ihrer Generation früher, hält Blazenka dagegen. Blazenka erinnert sich noch deutlich an den Sozialismus. In den achtziger Jahren wurde das Benzin im Land zeitweise knapp. „Damals durften an bestimmten Tagen nur Fahrzeuge mit geraden, an anderen Tagen die mit ungeraden Nummern fahren“. Diese Restriktionen habe man unter dem Schlagwort „Stabilisierung der Wirtschaft“ verpackt. Wer Verwandschaft im Ausland hatte, ließ sich Nylonstrümpfe, Waschpulver oder Kaffee mitbringen. Denn diese Produkte waren knapp und extrem teuer.

Zwar habe es in Jugoslawien immer alles gegeben, doch manches sei von minderwertiger Qualität gewesen. So wie Babywindeln, made in Jugoslavia. „Manchmal riefen die Leute im Radio an und sagten, dass es in diesem oder jenem Laden noch gute Windeln zu kaufen gäbe“, erinnert sich Blazenka an 1989, als Dominik noch ein Baby war und die sozialistische Welt ins Wanken geriet. Wer es sich leisten konnte, fuhr daher zum Einkaufen ins österreichische Graz oder ins italienische Triest. Windeln, Waschpulver, Damenbinden, Kaffee, Zucker oder Nylonstrümpfe – die Einkaufsliste war damals lang. Und scheint es heute noch zu sein, nachdem das junge Kroatien seit nunmehr bald zwei Jahrzehnten auf eigenen Beinen steht.

Allerdings nur auf den ersten Blick. „Die Menschen in Zagreb kaufen teure Markenkleidung, neue Autos und Wochendhäuser am Meer oder in den Bergen“, erzählt Blazenka. Der Samstag werde im Café verbracht, möglichst auf der Straße, um gesehen zu werden und zu einer gewissen urbanen Elite zu gehören. Vieles habe sich heutzutage nur auf Äußerlichkeiten und Statussymbole reduziert. Vielleicht liege es daran, dass die Menschen in Kroatien im vorigen Jahrhundert mehrfach ihre politischen Ideale, aber auch ihre gesamten Ersparnisse verloren hätten. Man sei es nicht wirklich gewohnt zu sparen. „Daher verhalten wir uns in unserem Konsumverhalten vielleicht manchmal, als gäbe es kein Morgen“, sagt Blazenka. Denn schließlich wisse man nie, was noch komme.


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