Tschechien

Der Prager Sturz und die Folgen

Innen- und europapolitisch gerät Tschechien in Turbulenzen (n-ost) - Es war irgendwie symbolisch, dass am Dienstagabend ein heftiges Wintergewitter über Prag tobte. Gegen 18.30 Uhr zuckten Blitze mit krachendem Donner über der malerischen barocken Kleinseite. Gerade zu diesem Zeitpunkt brach das Unwetter auch über Tschechiens Premier Mirek Topolanek herein. Im fünften Anlauf fegte ihn die linke Opposition gemeinsam mit vier "Rebellen" aus dem Regierungslager von den Bänken der Macht. Genau 101 Stimmen brachten Topolaneks Gegner auf - eben diese Zahl war erforderlich, um dem Premier und seinem Kabinett aus Liberal-Konservativen, Christdemokraten und Grünen das Vertrauen zu entziehen. Es war das erste Mal, dass in Tschechien eine Regierung durch ein Misstrauensvotum aus dem Amt gefegt wurde. Doch das wäre noch nichts Ungewöhnliches. Das Problem in Prag: Topolanek ist nicht einfach "nur" Regierungschef, er steht derzeit auch der EU vor. Die Turbulenzen sind denn auch nicht nur innenpolitischer, sondern auch europapolitischer Natur.Fast alle tschechischen Kommentatoren waren sich tags darauf in ihrer Bewertung einig. Sie warfen der Opposition und den vier Überläufern Unverantwortlichkeit vor. Die konservative "Lidove noviny" stellte die Fotos der vier "Rebellen" auf die Titelseite unter die Überschrift "Die Galerie der Schande". Die liberale "Mlada fronta dnes" beklagte die politische Kultur im Land. Zudem komme der Zeitpunkt der Abwahl der Regierung denkbar ungeeignet. "Eigentlich wäre es an der Regierung - am besten gemeinsam mit der Opposition - Schritte zu unternehmen, um die Unternehmen und die Bevölkerung aus der wirtschaftlichen Rezession zu führen. Völlig dumm ist die Absetzung der Regierung in einer Zeit, da der Weltmarkt eh schon an mangelndem Vertrauen in Mittel- und Osteuropa leidet, speziell nach dem Rücktritt des ungarischen Regierungschefs. Wir können uns wirklich gratulieren."Innenpolitisch ist jetzt alles offen. Die Augen sind auf Präsident Vaclav Klaus gerichtet, der die weiteren Geschicke in der Hand hat. Er muss einen neuen Premier benennen. Die Partei von Topolanek sieht dafür nur einen Kandidaten: den gerade abgewählten. Der will versuchen, eine Regierung zusammenzubasteln, die in keiner Weise von den alten, ungewendeten Kommunisten abhängig ist. Doch das wird sehr schwer werden. Sollte er scheitern, so Topolanek, dann wolle seine ODS schnellstmögliche Neuwahlen. Die Sozialdemokraten dagegen scheuen einen raschen Urnengang. Parteichef Jiri Paroubek freute sich auch seltsam verhalten über das gelungene Misstrauensvotum. Er hat zwar jetzt die Genugtuung, eine Regierung geschlagen zu haben, die lange nur auf zwei sozialdemokratische Überläufer bauen konnte. Aber er weiß auch genau, wie schwer es werden würde, Tschechien inmitten der Krise zu übernehmen. Es nimmt nicht wunder, dass Paroubek Topolanek großzügig die Fortsetzung der EU-Präsidentschaft überlassen will. Abgesehen davon, dass ein Wechsel dort niemandem in Brüssel willkommen wäre.Europapolitisch wichtig wird die Frage sein, welche Folgen der Sturz der Regierung für das Schicksal des EU-Reformvertrags von Lissabon in Prag haben wird. Das Abgeordnetenhaus hat das Dokument gebilligt, aber in der zweiten Kammer, dem Senat, liegt der Vertrag derzeit auf Eis. Dort gibt es eine konservative Mehrheit, der der Vertrag nicht passt. Schon einmal hatten sich Senatoren an das Verfassungsgericht gewandt, das überprüfen sollte, ob Lissabon nicht mit dem tschechischen Grundgesetz kollidiert. Das Gericht sah eine solche Gefahr nicht. Dennoch äußerte es sich nur zu sechs ausgewählten Punkten. Prompt gibt es aus den Reihen der Lissabon-Gegner neue Anläufe, vor Gericht zu ziehen. Das soll nun den Vertrag in seiner Gänze auf die Verfassungskonformität überprüfen. Das kann dauern. Zumindest würde die Annahme von Lissabon so weiter unendlich verzögert werden. Es ist aber auch vorstellbar, dass sich die Zahl der Lissabon-Gegner im Senat nach der Entmachtung Topolaneks weiter erhöht. Der Premier war zwar nie ein großer Freund des Vertrags, bekannte sich aber letztlich doch zu ihm. Überdies steht nach dem Senat auch noch der EU-kritische Präsident Klaus mit seiner Unterschrift an. Offiziell hält sich Klaus bislang bedeckt. Hinter den Kulissen aber äußerte er bereits, dass er Lissabon in keinem Fall unterzeichnen werde. Dies könnte ihm nach der Entmachtung Topolaneks, unter dessen Druck er in dieser Frage stand, leichter fallen. Dann hätte Europa ein riesiges Problem. Sagt nur ein Land - oder ein Präsident - Nein, dann kann der Vertrag von Lissabon nicht in Kraft treten. Nichts beschreibt besser, wie sehr Tschechien, dass Europa derzeit eigentlich führen sollte, zum ganz großen Sorgenkind Europas zu werden droht.
Hans-Jörg Schmidt
 
ENDE
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