Tschechien

Keine Spur von Ostalgie

Petr Hefka steht in seinem Laden zwischen Waschmaschinen, Fernsehern, Radioweckern. Es ist ein lang gestreckter Verkaufsraum in der Hauptstraße von Zlate Hory, Ausdruck eines gewissen Wohlstandes und letztlich doch nur Mittel zum Zweck. Dort, in dem gelb getünchten Haus, werden Petr Hefkas Träume greifbar: Jeder verkaufte Kühlschrank, jeder Flachbildschirm, der den Raum verlässt, ist ein Flugticket in die Karibik.

Dem 41-Jährigen geht es gut. Sein Geschäft ist das einzige weit und breit. Zlate Hory liegt ganz am Rande Mährisch-Schlesiens und das liegt ganz am Rande Tschechiens. Größere Elektromärkte findet man erst wieder in Olomouc oder Ostrava, anderthalb Stunden entfernt. Zu weit, also kommen die Leute zu Petr Hefka.

Mit der Nachwendezeit zu 100 Prozent zufrieden: der Geschäftsmann Petr Hefka. Foto: Barbara Breuer

Dass er eines nicht allzu fernen Tages zum Tauchen auf die Malediven fliegt, hätte der Starkstrom-Elektriker vor 20 Jahren nicht zu träumen gewagt. Die Nachrichten von den Unruhen im November 1989 erreichen ihn damals unvermittelt: Während das staatliche Fernsehen den Bürgern der damaligen Tschechoslowakei noch Normalität vorgaukelt, kommt ein Freund aus Prag zu Besuch nach Zlate Hory. In dem 4500-Seelen-Ort im Grenzgebiet zu Polen erzählt er von Studentenstreiks, Demonstrationen und prügelnden Polizisten. „Wir haben das alles anfangs nicht geglaubt“, erinnert sich Petr Hefka.

Aber nur wenig später erreicht der Ruf nach Veränderungen auch die Provinz. Petr Hefka und seine Kollegen von der staatlichen Geoforschung treten in Streikbereitschaft. Sein bester Freund, ein Student, bringt aus der Industriestadt Ostrava Protestplakate mit. „Sehr geehrte Genossen“, steht darauf, „Sie haben für Ihre Ideale des 19. Jahrhunderts gelebt, wir werden für die Natur und den Menschen des 21. Jahrhunderts leben... Rechtfertigen Sie bitte den Erhalt Ihrer Machtpositionen nicht mit dem Schutz des Sozialismus... Wir bitten Sie, treten Sie ab!...“.

Gemeinsam hängen sie die Plakate in der Plattenbausiedlung ihrer Stadt auf: Verstecken, vorbereiten, aufkleben, abhauen – so verläuft die Aktion. „Wir haben damals natürlich nicht gedacht: Wir verbreiten jetzt die Protestschreiben und dann fallen die Kommunisten“, sagt Petr Hefka. Mitgerissen von der Euphorie geht es den jungen Männern eher darum, etwas Verbotenes, Gefährliches zu tun. Dafür und für Neuigkeiten oder Flugblätter aus der „Welt“, also aus Ostrava, spendieren neugierige Mitbürger den beiden in der Kneipe Bier und Rum – sehr zum Gefallen der jungen „Rebellen“.

„Mama erzählt immer, dass sie damals große Angst um dich hatte“, sagt Veronika Hefková. Petr Hefkas Tochter war zur Wendezeit gerade ein Jahr alt. Sie kennt die Ereignisse von 1989 nahezu ausschließlich aus den Erzählungen ihrer Eltern. „Wenn ich an 1989 denke, fällt mir zuerst die Revolution ein, aber so richtig weiß ich gar nicht, was ich mir unter Revolution vorstellen soll“, sagt sie. „Wir haben zwar im Geschichtsunterricht alles möglich sehr ausführlich behandelt, aber nichts über die jüngste Zeit gelernt“, erzählt die Abiturientin. „Ich fühle da eine große Lücke und schäme mich auch ein bisschen dafür, dass ich mich bisher nicht hingesetzt und mir dazu selbst etwas angelesen habe“, gibt sie zu und wird ein wenig rot dabei.

Veronika Hefková ist in Zlate Hory aufgewachsen. Hier möchte sie auch nach dem Studium leben. Foto: Barbara Breuer

Im vergangenen Herbst hat die junge Tschechin angefangen, an der Technischen Universität in Ostrava Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Zufrieden ist sie nicht. Über einen Wechsel an eine andere Hochschule denkt sie nach, noch ist sie unschlüssig: „Fünf Jahre sind ja auch keine Katastrophe, das lässt sich überleben“, redet sie sich zu. Schließlich ist zu langes Studieren oder Herumtrödeln heutzutage auch in Tschechien verpönt. Zielstrebige junge Menschen, mit guten Noten, viel Berufserfahrung und fundierten Sprachkenntnissen werden gebraucht. Das Diktat des Marktes hat die sozialistische Diktatur abgelöst. Jeder ist heute selbst dafür verantwortlich, inwiefern er die unbegrenzten Möglichkeiten nutzt.

Damals, als Petr Hefka seine Ausbildung abgeschlossen hatte, waren die Möglichkeiten noch begrenzt: „Ambitionen gehörten nicht in die Zeit.“ Und so durchlebte er den Sozialismus wie viele Tschechoslowaken: „Für uns war durch das System alles vorgezeichnet. Arbeit, Hochzeit, Wohnung, fertig!“ Da störte es auch nicht, dass er nach einem Semester von der Hochschule flog. „Ich bin lieber zu meiner Freundin gefahren, als zu lernen“, sagt er heute.

Negative Erinerungen an die Vorwendezeit hat er allerdings keine. Von der Existenz der „ŠtB“, der Tschechoslowakischen Staatssicherheit, habe er erst nach 1989 erfahren. „Was das politische System betrifft, lebten die Menschen hier zu 90 Prozent in Unwissenheit“, schätzt Petr Hefka. Ihn versuchten die kommunistischen Genossen nur einmal während der Ausbildung zu rekrutieren: „Sie wollten mich mit einem sicheren Hochschulplatz ködern“, sagt Petr Hefka. Vergeblich.Dabei ist Petr Hefka ein politischer Mensch. Sein Kreuzchen macht er heute bei den Konservativen.

In Zlate Hory will er auch selbst mitgestalten. Im Stadtrat und -parlament vertritt er die parteilose Vereinigung „Unabhängige 2006“. Seine Tochter indes kann mit Politik nicht viel anfangen. „Ich verstehe nicht viel davon“, sagt die 20-Jährige. „Und wenn ich an Kommunismus denke, dann fällt mir als erstes das Reiseverbot ein und, dass viele Menschen in Angst gelebt haben“.Unter anderem deswegen will ihr Vater nicht, „dass die alte Zeit zurück kommt“. Die romantisierende Verklärung des Lebens in der ehemaligen Tschechoslowakei à la Ostalgie ist den Tschechen fremd. „Ich kenne niemanden, der so denken würde“, sagt Veronika Hefková. Trotzdem scheint sie ihren Vater ein wenig zu beneiden: um eine sorglose Jugend, in der alle Schüler die gleiche Kleidung hatten und in dieselben Urlaubsorte fuhren.

Als Veronika Hefková Mitte der 1990er Jahre eingeschult wurde, hatte sich der Kapitalismus bereits seinen Weg bis in die Klassenzimmer gebahnt. „Ich erinnere mich nur ungern an die Grundschulzeit, weil ich keine Freunde hatte. Niemand wollte mit mir spielen, ich wurde ausgeschlossen. Warum, das hat mir nie jemand gesagt.“ Das Kind reagierte mit dem Rückzug in die Familie, sie spielte vor allem mit dem drei Jahre jüngeren Bruder.

Auch geschäftlich ein Team: Veronika Hefkova hilft ihrem Vater im Elektroladen aus. Foto: Barbara Breuer

Für den Vater, der sich 1991 in Zlate Hory mit seinem Elektrogeschäft selbstständig gemacht hat, ist klar, warum seine Tochter und ihr Bruder so allein waren: „Wenn einige Kinder nie verreisen und andere mehrmals im Jahr sonnengebräunt aus den Ferien zurück kommen, entsteht Neid.“ Den bekam auch er zu spüren, als er mit einer Mikrowelle, einem Fernsehgerät und zehn Videorekordern als kleiner Geschäftsmann startete. „Vor allem meine ehemaligen Vorgesetzten schienen sich zu fragen, was ich mir da überhaupt erlaube.“ Inzwischen fragt das aber niemand mehr in Zlate Hory.

Die Samtene Revolution und ihre Folgen, vor allem die wirtschaftlichen, haben auch die frühere Bergbaustadt verändert. Zlate Hory, das heißt „Goldene Berge“. Seit 1993 ist das Geschichte. Damals schloss das Bergwerk der Stadt. 1200 Kilogramm Gold hatten die Kumpel in den letzten drei Jahren aus dem Gestein geholt. Bis zu 1000 Bergleute waren es in den besten Zeiten. Die Männer arbeiteten unter Tage, die Frauen in der Textilfabrik. Doch auch das ist vorbei. Heute ist in der Region jeder Sechste arbeitslos. Aber es ist nicht nur Niedergang: Ein neuer Skihang soll Touristen anlocken, knapp zwei Millionen Euro hat die EU ins „Bohemaland“ gepumpt. Nur, allzu viele Arbeitsplätze bringt die Anlage nicht.

Petr Hefka hat die neue Zeit neben Wohlstand vor allem Selbstbewusstsein gebracht. „Ich finde, wenn jemand fähig und fleißig ist, dann sollte das auch belohnt werden“, sagt er. „Ich bin Realist und habe Träume, die ich auch erreichen kann“. In einem dieser Träume stehen Palmen an einem weißen Strand. Und wenn nicht in die Karibik, dann fährt er mit seiner Frau und den beiden Kindern nach Frankreich, zum Skifahren.

Auch Veronika will die Welt kennen lernen, will studieren in Skandinavien. Im Sommer wird sie arbeiten, in einem Nationalpark in den USA. Doch sie wird zurückkehren. Veronika Hefková liebt ihre Heimat und die Berge. Und auch sie träumt, nur liegt ihr Sehnsuchtsort nicht in der Ferne. Eine kleine Pension oder ein Hotel, hier an den Ausläufern des Altvatergebirges, das wär’s schon.Petr Hefka möchte auch nicht woanders leben, so sehr ihn auch manchmal das Fernweh packt. „Ich bin hier zu 100 Prozent zufrieden.“ Zlate Hory, die kleine Stadt am Rande Tschechiens, die Stadt der Goldenen Berge. Für ihn ist der Name mehr als nur eine Verheißung. Petr Hefka hat sein Glück gefunden.


Weitere Artikel