Orbans „Amoklauf” stoppen
„Orbán und sein Regime hängen uns beim Hals heraus! Wir müssen den Amoklauf dieser Regierung endlich stoppen! Sie hat nicht nur den demokratischen Rechtsstaat zertrümmert, sondern auch das Land in den wirtschaftlichen Abgrund geführt!” Die emotionsgeladenen Worte des dreißigjährigen Soziologen Sándor stehen stellvertretend für den geballten Frust der Zehntausenden Menschen, die am Montagabend vor der Budapester Staatsoper gegen die rechtskonservative Regierung von Viktor Orbán und die neue ungarische Verfassung demonstrierten. Immer wieder skandiert die Menge „Orbán verschwinde!” und „Genug!”. Auf einem der unzähligen Transparente ist die Aufschrift „Hey Europe! Sorry about my prime minister!” zu lesen.
„Hey Europe! Sorry about my prime minister!”
Derweil wird innerhalb der altehrwürdigen Staatsoper im Beisein von Premier Orbán und Staatsoberhaupt Pál Schmitt das Inkrafttreten der neuen Verfassung mit barockem Pomp und salbungsvollen Reden zelebriert. Von der parlamentarischen Opposition ist niemand da, was nicht weiter verwunderlich ist. Wurde doch das neue Grundgesetz im Frühjahr 2011 nur mit den Stimmen der Regierungsparteien Fidesz-KDNP verabschiedet, die über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügen. Seit 1. Januar hat Ungarn also eine neue Verfassung. Das Land ist nunmehr keine „Republik” mehr, was heißt, dass auch das ungarische Institutionensystem auf einer völlig neuen Grundlage steht, wie viele meinen, auf einer „antidemokratischen”.
Von den 32 sogenannten Zweidrittelgesetzen, die der neuen Verfassung beigefügt worden sind, sorgen bei den Regierungsgegnern vor allem jene über die Notenbank (MNB), das Verfassungsgericht, die Justiz und das Wahlrecht für Entrüstung. Die Nationalbank wird künftig am Gängelband der Regierung hängen. Dies bedeutet, dass der Regierungschef die Mehrheit der Mitglieder des obersten Entscheidungsgremiums der MNB von nun an selbst ernennen wird. In den Augen der Regierungskritiker ist in Ungarn damit die allerletzte Bastion des staatlichen Institutionensystems gefallen, die gegenüber der Regierung noch unabhängig war.
Demontage der unabhängigen Justiz
Mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung sind auch die Befugnisse des Verfassungsgerichts massiv beschnitten worden. In Fragen der Steuerpolitik etwa hat das Gericht kein Vetorecht mehr. Nicht zu sprechen davon, dass unter den Verfassungsrichtern mehrere Vertrauenspersonen des Ministerpräsidenten sitzen. István Stumpf beispielsweise war Kanzleramtsminister während der ersten Regierung Orbán (1998-2002), István Balsai wiederum war im Vorjahr noch Regierungsbeauftragter für die Durchleuchtung des „Machtmissbrauchs” der linksliberalen Regierung von Ferenc Gyurcsány (2004-2009) während der Unruhen im Herbst 2006.
Für Unmut sorgt aber auch die offenkundige Demontage der unabhängigen Justiz. An der Spitze der Landesgerichtsbehörde sitzt seit kurzem jene Tünde Handó, die zusammen mit ihrem Ehemann József Szájer, der Gründungsmitglied der Regierungspartei Fidesz ist, zu den persönlichen Freunden des Orbán-Ehepaars gehört. Handó, die mit einem Mandat von neun Jahren gleichsam einbetoniert wurde, wird in Zukunft unter anderem darüber entscheiden dürfen, wer in Ungarn Richter wird. Der namhafte Anwalt in Strafrechtsfragen, Péter Zamecsnik, bezeichnete die neue Situation im ungarischen Justizwesen gegenüber der linksliberalen Wochenzeitung „168 óra” kurz und bündig als „Justizmord”.
Heftige Kritik aus dem Ausland
Auch das Gesetz über das neue Wahlrecht birgt ein gerüttelt Maß an politischem Sprengstoff in sich. Laut dem Direktor des Politikforschungsinstituts Policy Solutions, Tamás Boros, ist das neue Wahlgesetz ganz auf die Regierungspartei Fidesz zugeschnitten. So sei eine Abwahl des Fidesz fast unmöglich. Nur eine breite Allianz der oppositionellen Kräfte wäre dazu imstande. Jedoch ist die Opposition in viele Parteien zersplittert, die obendrein auch noch untereinander über Kreuz liegen. Hinsichtlich des Wahlgesetzes vergleicht Boros die nächsten Parlamentswahlen mit einem „Match”, bei dem zwar „auf Grundlage demokratischer Spielregeln gespielt wird, allerdings wird der Fidesz mit einem Spieler mehr antreten”.
Die neue Verfassung und die mit ihr einhergehenden Veränderungen haben der Regierung Orbán auch heftige Kritik aus dem Ausland eingebracht. Bei Orbán stieß die Kritik aber offenbar auf taube Ohren. Zwei Mahnbriefe von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso in Sachen Notenbankgesetz? Denkste! Ein Brief von US-Außenministerin Hillary Clinton, in dem sie ihre Sorge über die demokratiepolitisch fragwürdigen Schritte der Regierung Orbán ausdrückt? Ach was! Die Herabstufung der Kreditwürdigkeit Ungarns durch zwei Ratingagenturen auf den Status „Ramsch”? Unsinn! Die Regierung Orbán lässt sich bei der Verfolgung ihrer Ziele durch nichts beirren. Vorläufig zumindest.
„Informelle Verhandlungen” mit dem IWF
Die Regierungsgegner sehen nun im Internationalen Währungsfonds (IWF) den allerletzten Strohhalm, der die Regierung Orbán doch noch zur Räson bringen könnte. Ende des Vorjahres hatte die Regierung Orbán zähneknirschend Verhandlungen mit dem IWF über ein vorsorgliches Kreditabkommen angekündigt. Der Grund: Wegen der Schuldenkrise in Europa und der für viele abgründigen Wirtschaftspolitik von Volkswirtschaftsminister György Matolcsy ist Ungarn wie schon im Jahr 2008 neuerlich in eine finanzielle Notlage geraten. Ungarn braucht also dringend das Geld vom IWF. Dieser dürfte einem Kredit für Ungarn aber wohl nur dann zustimmen, wenn das Land bestimmte Auflagen erfüllt, darunter womöglich die Änderung des umstrittenen Notenbankgesetzes. Orbán gibt sich derzeit aber noch unbeugsam: Ungarn sei auf keinen IWF-Kredit angewiesen, sagte er kürzlich. Laut ungarischen Medienberichten wird es jedoch schon am 11. Januar „informelle Verhandlungen” zwischen Ungarn und dem IWF geben.