Seelenfrieden statt Geldverdienen
Zwanzig vor sieben an einem Sonntagmorgen rast Kolja (47) in seinem grünen Volkswagen über das Kopfsteinpflaster des Französischen Boulevards in Odessa, vorbei an den Villen der Reichen. Das Ziel des Geschäftsmannes ist die Sonntagsmesse in der Kirche Andrian und Natalija. Kolja drückt gerne auf das Gaspedal, noch dazu, wenn die Straßen nicht von dem werktäglichen Verkehr verstopft sind. Nur ein Auto kommt ihm entgegen.Plötzlich steht das Autor quer vor Koljas Wagen. Beide Fahrer steigen aus, der Mann aus dem anderen Auto behauptet, Kolja hätte sein Auto gestreift und verlangt Geld. An dem Wagen aber ist nichts zu sehen. Nur der Außenspiegel von Koljas Wagen ist eingeknickt. Kolja zahlt kein Geld. Im Verhandeln ist der Geschäftsmann erfahren.
Porträt Kolja / Swetlana Tarassuk
Kolja war während der Sowjetzeit stellvertretender Vorsitzender der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Komsomol des Gebiets Odessa. Nach dem Bestehen seines Diploms mit Auszeichnung begann er für seine Doktorarbeit am Lehrstuhl für Wasserwirtschaft zu arbeiten. Doch dann kam die Perestroika, und der Lohn wurde nicht mehr ausgezahlt. Um seine Frau und seine zwei Söhne zu versorgen, entschied sich Kolja fürs Geschäftemachen: Er vertrieb Wäscheklammern und Frauenschuhe, baute Heizkessel und kilometerlange Treibhausanlagen, versuchte Aquariumfische an Franzosen zu verkaufen.
Kolja erinnert sich an acht Unternehmen in neun Jahren, in denen er als Direktor arbeitete. Das war für ihn eine aufregende Zeit. Aus dem unbescholtenen Sowjetbürger, der in kariertem Hemd, die Haare brav zu einem Seitenscheitel gekämmt mit der Aktentasche unter dem Arm zu seiner Arbeit im wissenschaftlichen Institut ging, wurde der Geschäftsmann Kolja, die kinnlangen Haare mit einem Gummiband zu einem Zöpfchen gebunden, immer in einem neuen Auto unterwegs auf der Suche nach neuen Geschäften.Übers Geschäftemachen spricht Kolja allerdings nicht gerne. Er hat das Business in einer Zeit gelernt, in der keiner wusste, was legal und was illegal ist. Wirtschaftsbücher nach dem Typ „Der ideale Führungsstil“ blätterte er mal ein bisschen durch und entschied, dass die Ratschläge in der Praxis schwer umzusetzen sind.
Kolja machte Geld und verlor es wieder – und zwar so schnell, dass er erst viele Jahre später an längerfristige Investitionen wie den Kauf von Immobilien denken konnte. An diesem Sonntagmorgen kommen Kolja und seine Frau eine Viertelstunde zu spät zum Gottesdienst. Die Kirche ist fast leer. In der orthodoxen Kirche gibt es keine Kirchenbänke, die Gläubigen stehen während des Gottesdienstes. Die Frauen stehen üblicherweise links vom Altar, die Männer rechts. Kolja und seine Frau gehören zu den wenigen Paaren, die diese Regel beachten. Die Messe dauert über zwei Stunden und besteht vor allem aus dem Singen von Gebeten und aus rituellen Bekreuzigungen. Koljas Frau bekreuzigt sich inbrünstig mit ausladenden Bewegungen, Kolja mit einer gewissen Zurückhaltung. In die Kirche zu gehen, sieht Kolja als seine Pflicht an: „Ohne die Kirche ist alles verloren. Meine Generation kennt keine Werte mehr. Das Geld steht an erster Stelle.“
Zur Illustration seiner Behauptung erzählt er, dass früher in seinem Haus alle Türen offen standen. Heute verbergen sich seine Nachbarn hinter Panzertüren, Sicherheitsschlössern und Alarmanlagen. Früher allerdings war die Kirche für ihn verschlossen. In die Ostermesse konnte er zu Sowjetzeiten nicht gehen. Aktivisten bildeten einen Kreis um die Kirche und ließen die Kirchgänger nicht durch. Parteikollegen führten Listen, wer in Kirche ging. Der Besuch der Kirche konnte Karrieren zerstören. Koljas älterer Sohn Wladimir (22) wollte zuerst auch wie sein Papa Geschäftsmann werden. Er begann ein Informatikstudium in Odessa. Doch starke Zweifel regten sich in ihm. „Billig einkaufen, etwas draufschlagen, dann wieder verkaufen, darin sah ich nicht meinen Lebenssinn. Arbeiten um zu essen und essen um zu arbeiten. Ich dachte an den griechischen Philosophen Diogenes in der Tonne. Wir sitzen alle in einer Tonne., sagt Wladimir.
Porträt Wladimir / Swetlana Tarassuk
Nach zwei Jahren brach der schlanke Junge, der auf Fotos immer ein bisschen entrückt schaut, sein Studium ab und bewarb sich an einem der renommiertesten Priesterseminare der russisch-orthodoxen Kirche. Die Aufnahmeprüfung in dem Dreifaltigkeitskloster Sergiew Passad bei Moskau bestand er auf Anhieb. Sein heutiger Studienkollege hatte sich neun Mal vergeblich beworben, bis es klappte. Wladimir wird in einem Jahr das fünfjährige Priesterseminar beenden. In der kleinen Kirche am Französischen Boulevard in Odessa beginnt Vater Sergeij die Beichte abzunehmen.
Den Gemeindemitgliedern schaut Vater Sergeij in die Augen, denn einen Beichtstuhl gibt es nicht. Er steht während des Gottesdienstes in einer Ecke des Kirchenraums. „Der Priester muss ein Vorbild für den Gläubigen sein“, sagt Wladimir. „In einer Gesellschaft, in der die Massenmedien mit Tabakwerbung Geld verdienen, steht die Kirche für Unabhängigkeit und ewige Werte. Sie ist der Kopf der Gesellschaft.“Diese hohen Anforderungen an das Priesteramt sind Wladimir am Anfang nicht leichtgefallen. Im ersten Studienjahr erwischte ihn ein Priester, als er beim Counter-Strike-Spielen am Computer auf virtuelle Terroristen schoss. Wladimir verfasste ein Entschuldigungsschreiben, das in seine Akte gelegt wurde. Nach vier Entschuldigungsschreiben muss ein Priesteranwärter das Seminar verlassen. Wladimir hat kein weiteres Schreiben verfasst. „Manchmal ist es anstrengend, dass wir in einem geschlossenen System leben.“
Dieses Gefühl kennt sein Vater auch. Für ihn war die Sowjetunion kein schlechtes System, wenn sie den Bürgern nur mehr Freiheiten gelassen, wenn der Staatsapparat nicht alles kontrolliert hätte und das System liberaler gewesen wäre. „Dann wäre es aber nicht mehr die Sowjetunion gewesen“, wirft seine Frau ein. Von dieser Zeit hat Sohn Wladimir kaum etwas mitbekommen. Die einzige Erinnerung, die er an den Systemwechsel hat, ist die Erinnerung an Michail Gorbatschow. „Damals habe ich meine Mutter gefragt, warum er eine rote Schramme auf der Stirn hat. Mama antwortete, seine Frau habe ihm mit dem Nudelholz eins übergezogen.“ Wladimir lacht.
Kolja wird beim Wort Perestroika ernst. In den Geschäften gab es in dieser Zeit nichts zu kaufen. Die Familie ging in einer Mensa essen, in der es Brot, Salz, Pfeffer und Senf kostenlos gab. Bestellt wurde nur ein kleines warmes Gericht. Der Grund für den Besuch in dieser Mensa waren die dick mit Senf bestrichen und mit schwarzem Pfeffer gewürzten Brote. Drei Jahre hätten sie so gelebt, erzählt Koljas Frau. Doch Kolja fällt ihr ins Wort: „Nein, nach einem halben Jahr hatte ich schon mein erstes Auto, einen Wolga, und ab da ging es bergauf.“
Das kann er heute nicht mehr von sich behaupten. Denn die Geschäfte gehen zurzeit ganz schlecht. Kolja hat alles bis auf eine Touristenstation am Asowschen Meer verkauft. Nun baut er einen Ortsverband der Liberalen Partei in Odessa auf. Für die Unterstützung der kleinen und mittelständischen Unternehmen. Ideologisch sympathisiert Kolja mit der Idee einer slawischen Union der Ukraine, Belarus und Russland. Kommunistische Gedanken. „Ja, die Ideen sind eigentlich nicht schlecht, aber sie haben mit der heutigen Realität nichts zu tun“, sagt Kolja.
Dass sein Sohn Priester werden möchte, kam am Anfang überraschend für Kolja. Er zitierte seinen Sohn zu einem „Gespräch von Mann zu Mann“. Dabei konnte Wladimir aber seinen Vater von seinem Lebenswunsch überzeugen. Die Kirche bedeutet Wladimir alles, er träume, sagt er, von einem Leben im Einklang mit Gott. „An erster Stelle steht für mich meine zukünftige Arbeit als Priester und dann meine Familie. Ich möchte viele eigene Kinder und noch mehr Seelenkinder“, sagt Wladimir. Wladimir heiratete im vergangenen Sommer, in diesem Sommer erwartet seine Frau ihr erstes Baby. Orthodoxe Priester dürfen verheiratet sein. „Wenn Gott es so will“, sagt Wladimir, „klappt es dann auch mit einer eigenen kleinen Gemeinde, irgendwo.“
Kolja beeindruckt die sanfte Zielstrebigkeit seines Sohnes, aber hin und wieder erscheinen ihm Wladimirs geistliche Studien wie die Theorie aus seinen Wirtschaftsbüchern. Kolja bleibt ein Mann der Praxis: Nach Wladimirs Hochzeit fuhr er noch nachts mit einem Lieferwagen aus Odessa nach Moskau ins Kloster und renovierte ein Häuschen für die junge Familie. „Wenn Wladimir seine eigene Kirche bekommt, nehmen wir mal an, in der Provinz, dann gehe ich mit.“
Für einen Hilfspriester halte er sich allerdings moralisch nicht geeignet, gibt Kolja zu, der von sich selbst sagt, er führe einen aktiven Lebensstil. „Ich werde Wladimirs Verwaltungschef. Die Kirche streichen, einen Garten anlegen, eine Sonntagsschule organisieren usw.“ Zwanzig Jahre nach der Perestroika hat Wladimir seine Bestimmung als Priester gefunden, und sein Vater plant mal wieder ein kleines Unternehmen.