Tschechien

„Er öffnete mutig das Fenster zur Freiheit“

Um 12 Uhr am Freitag steht Tschechien still. Nur die Glocken aller Kirchen läuten im ganzen Land, das wie passend zum Anlass ein graues Nieselregenkleid angelegt hat. Die Menschen verharren stumm, vergessen für eine Zeit den Weihnachtstress, bleiben schweigend stehen, wo sie sich gerade aufhalten. Manchen steigen noch einmal Tränen in die Augen. Tränen um Vaclav Havel, den wahrscheinlich größten Sohn, den das Land hervorgebracht hat, der es zurück in die Freiheit führte. Am vergangenen Sonntag war Havel nach langer schwerer Krankheit mit 75 Jahren in seinem Landhaus am Fuße des Riesengebirges gestorben. Jetzt bekommt er sein letztes Geleit.

Zur gleichen Mittagszeit verneigen sich gemeinsam mit den tschechischen Spitzenpolitikern und Weggefährten des Verstorbenen Präsidenten, Regierungschefs, Außenminister oder auch Vertreter von Königshäusern aus mehr als 40 Ländern der Welt vor Havel. Sie alle sind in die mächtige St. Veits-Kathedrale auf dem Areal der Prager Burg gekommen, um noch einmal den früheren „Politiker-Kollegen“ von der Moldau zu ehren, der doch sehr viel mehr war als viele von ihnen selbst: Eine außergewöhnliche moralische Instanz, ein Mann, für den Politik viel mehr bedeutete, als Macht inne zu haben, der Politik immer zuerst als ein Mittel sah, die Welt ein Stück zum Besseren zu ändern.

Zehntausende verfolgen das Geschehen still und ergriffen

Aus Deutschland beispielsweise ist Christian Wulff angereist, aus Frankreich Nicolas Sarkozy, aus Großbritannien David Cameron, aus Österreich Heinz Fischer. Eine Delegation aus den USA gesellt sich zu ihnen, an der Spitze Hillary Clinton und ihr Ehemann, Ex-Präsident Bill Clinton, enge Freunde Havels. Lech Walesa ist da, die gesamte Führung aus der Slowakei, wo an diesem Freitag ebenfalls Staatstrauer herrscht, war doch Havel einst auch Präsident der Slowaken in der verblichenen Tschechoslowakei. Höchste Vertreter aus EU und Nato, die daran erinnern, dass es Havel war, der das Land in die westlichen freiheitlichen Strukturen geführt hat. Die Liste der Trauergäste ist ebenso lang, wie die Namen gewichtig sind. Draußen, auf dem Burgplatz, verfolgen Zehntausende still und ergriffen über große Leinwände das Geschehen.

Dominik Duka, der Prager Erzbischof, mit dem Havel unter den Kommunisten im Zuchthaus gesessen und in finsteren Zeiten den Geist mit Schachspielen wach gehalten hatte, zelebriert, verbunden mit anrührenden persönlichen Erinnerungen, den Trauergottesdienst, in dem auch Vaclav Maly, der Prager Weihbischof, eine wichtige Rolle spielt. Maly war 1989 an der Seite Havels der Moderator der großen Demonstrationen, die das alte Regime wegfegten. „Er öffnete mutig das Fenster zur Freiheit, was seinerzeit sehr gefährlich war“, erinnert er an die Zeit der Totalität.

Gedenken an den Menschen Vaclav Havel

Die Tschechische Philharmonie begleitet den Gottesdienst mit dem Requiem von Antonin Dvorak, so wie es 1989 das Te Deum für Havels Amtseinführung in eben dieser Kathedrale untermalt hatte. Eine Trauerbotschaft von Papst Benedikt XVI. zum Gedenken an den „Visionär“ Havel wird verlesen. Außenminister Karel Schwarzenberg und die in Prag geborene frühere US-Chefdiplomatin Madeleine Albright, eine langjährige Vertraute Havels, sprechen nicht nur über den Präsidenten, sondern auch über den Menschen Vaclav Havel. Albright nennt ihn einen der „am meisten respektierten Männer der Welt, den sie nie, nie vergessen“ werde.

Und wie schon beim tschechischen Staatsakt vor Tagen spricht auch Vaclav Klaus, Nachfolger Havels, aber auch langjähriger Rivale. Dass er kraft seines Amtes maßgeblich mit Regie bei den Trauerfeiern führt, hat manche Tschechen regelrecht aufgebracht. Klaus spricht erneut würdevoll über Havel, aber seine Kritiker werden ihm erneut vorwerfen, dass die „noblen Worte nicht vom Herzen kamen“. So scheiden sich die tschechischen Geister erwartungsgemäß selbst noch an Havels Grab.

Tschechen trauern wie um ein Familienmitglied

Von den vielen ausländischen Trauergästen fühlen sich aber alle Tschechen unterschiedslos geehrt. Deren Kommen macht ihnen noch einmal bewusst, was ihr einstiger Präsident für das Bild des Landes in der Welt getan hat. Tschechische Diplomaten erzählen immer gern die Geschichte, dass man in ihren Gastländern kaum wusste, wo das kleine Tschechien liege; doch den Namen des großen Staatsmannes Havel hätten viele immer in einem Atemzug mit Gandhi, dem Dalai Lama oder Mandela genannt.

Dennoch hat die Trauerwoche um Havel in Tschechien diejenigen eines Besseren belehrt, die immer behaupteten, der Präsident habe im Ausland mehr Ansehen genossen als im eigenen Land. Seit dem vergangenen Sonntag haben sich Millionen Tschechen immer wieder zu spontanen Trauerkundgebungen zusammengefunden, unzählige Kerzen für ihn entzündet, aber auch typisch Havel‘sche Happenings veranstaltet, auf Bühnen seine Werke gespielt oder aus seinen Essays gelesen.

Vielen ist es so, als wäre ein Familienmitglied für immer gegangen. „Er bleibt in unseren Herzen“, ist der am häufigsten ausgesprochene Satz im Tschechien dieser Tage. Havels Tod hat die Tschechen herausgerissen aus ihrer weit verbreiteten Politikverdrossenheit, hervorgerufen durch Affären, Intrigen und mangelnde Streitkultur derer, die das Zepter von der Generation der Revolutionäre um Havel übernommen haben.

„Es scheint“, schrieb eine enge Wegbegleiterin aus Dissidententagen am Freitag in einem Abschiedsbrief an Havel in einer Zeitung, „als ob sich Deine Hoffnung doch noch erfüllt, wonach Wahrheit und Liebe die Lüge und den Hass besiegen werden. Schade, dass Du für dieses Wunder erst sterben musstest. Vielleicht solltest Du von da oben für uns beten, dass dieses Wunder möglichst lange anhält.“


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