Wolken über dem Kloster Mor Gabriel
Shemso Demir streicht liebevoll über die Schonbezüge der Sofagarnitur, gießt Filterkaffee in eine Tasse und schaut versonnen aus den Thermopenfenstern in das Schneegestöber. Der fünfzehnjährige Jozef zappt durch verschiedene deutsche Fernsehkanäle, bis er das Schweizer Fernsehen findet. Seine Mutter rückt liebevoll einen Teller mit Zimtsternen über den Couchtisch. Die Dreiundvierzigjährige muss ihren Kindern vor allem in den Wintermonaten viel Aufmerksamkeit schenken. Denn dann vermissen die beiden Jungen das Rodeln in den Schweizer Bergen, in denen sie aufwuchsen.
„Ich hatte nach über zwanzig Jahren in der Schweiz einfach Heimweh nach meinen anatolischen Bergen“, seufzt die in Jeans und Pullover gekleidete blonde Frau. Vor zwei Jahren zogen die Demirs mit Jozef und seinem achtzehnjährigen Bruder Ishok zurück in ihr Heimatdorf Kafro unweit der syrischen Grenze. Aziz Demir, Shemsos Mann, ist stolz auf den Komfort, den er seiner Familie auch in der alten Heimat bieten kann. Er baute ein neues Haus mit großer Einbauküche und all den Annehmlichkeiten, die seine Familie aus Europa gewöhnt ist. Aziz und Shemso Demir blicken nicht auf, als es laut über die Dächer von Kafro knattert, nur die beiden Söhne ziehen instinktiv die Köpfe ein. Es sind Kampfhubschrauber der türkischen Armee auf ihrem Weg zu einem Bombenangriff in den Bergen. Seitdem die Demirs wieder in Kafro leben, eskalieren die Kämpfe zwischen der PKK und der türkischen Armee in der Gegend.
Ishok, sein Vater Aziz, sein Bruder Jozef, eine Nachbarin und die Mutter Shemso Demir. / Sabine Küper-Büsch, n-ost
Die Demirs sind syrisch-orthodoxe Christen, Süryani ist der türkische Ausdruck für die Volksgruppe der Assyrer. Die christlichen Assyrer leben gegenwärtig in den Nahoststaaten Irak, Iran, Syrien, der Türkei und dem Libanon sowie in westlichen Ländern und in Übersee. Sie sind die Nachfahren der Christen des Vorderen Orients, die seit dem dritten Jahrhundert im Gegensatz zur byzantinischen Reichskirche selbständige Kirchen gründeten und nicht das Griechische, sondern das Aramäische als Liturgie- und Theologiesprache verwendeten. Seit fast 2000 Jahren leben die Assyrer als Christen in Südostanatolien im Kreis Midyat in der Provinz Mardin. Sie nennen die Region „Tur Abdin“, „Berg der Knechte Gottes“.
Aziz Demir stapft die verschneite breite Hauptstraße des Dorfes entlang. Wie eine Fata Morgana erscheint Kafro in der verödeten Landschaft, verbrannte Erde buchstäblich, seit die türkische Armee in den Neunziger Jahren die Weinberge und Obstgärten um das Dorf abbrannte, um der PKK die Deckung zu nehmen. In der menschenleeren Weite der Hochebene, fernab von der Landstraße zur syrischen Grenze, wachsen plötzlich rund zwanzig prächtige Neubau-Villen aus dem Boden. Der Bauleiter, ein Verwandter der Demirs, wanderte Anfang der Neunziger Jahre nach Göppingen aus.
Aus Göppingen, Gütersloh, Paderborn, Augsburg, Zürich und Trülikon kommen die Bewohner dieses Villenviertels in der südostanatolischen Wildnis. Zurzeit sind es etwa 60, auch wenn viele in den Wintermonaten nach Europa zurückkehren. Von ursprünglich etwa 200.000 Assyrern aus der Türkei leben heute noch knapp 15.000 im Land, davon weniger als zweitausend im südöstlichen Midyat, die übrigen vor allem in Istanbul.
Geboren und aufgewachsen ist Aziz Demir im früheren Kafro, dem alten Dorf, dessen Überreste noch am Ortsausgang liegen. Er betritt ehrfurchtsvoll die alte Kapelle aus dem vierten Jahrhundert. Kurdische Hirten haben in der Abwesenheit der assyrischen Dorfbevölkerung von Kafro das Kirchenschiff als Viehstall genutzt, türkische Soldaten hinterließen ihre Initialen an den Wänden, überall sind Einschusslöcher zu sehen. In den Siebziger und Anfang der Achtziger Jahre gingen einige als Gastarbeiter, seit Mitte der Achtziger als Asylanten nach Europa. Sie waren auf der Flucht vor Armut, Ausgrenzung und dem PKK-Krieg, in dem die Assyrer des Tur Abdin zwischen den Fronten der kurdischen Rebellen und türkischen Armee saßen.
Aziz Demir und seine Frau Shemso gehörten zu den ersten Rückkehrern nach Kafro. Die halbherzige Einladung der Türkei erwiderten sie sogleich mit vollem Herzen. Rückkehrwilligen assyrischen Christen sollten keine Steine in den Weg gelegt werden, hieß es in einem Runderlass des damaligen türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit an die Provinzbehörden im Jahr 2001, „das könnte der Türkei sonst von internationalen Kreisen als Menschenrechtsverletzung ausgelegt werden“. Mehr Ermunterung brauchten die über Europa versprengten Männer und Frauen aus Kafro nicht, um ihre Wohnungen in Deutschland und der Schweiz zu verkaufen und ihre Lebensersparnisse in die Rückkehr zu stecken.
Doch während der Abwesenheit der Assyrer in den vergangenen zwanzig Jahren hat sich die Bevölkerungsstruktur im Tur Abdin drastisch verändert. Aus den umkämpften Gebieten im Umland zogen kurdische Familien in die Dörfer, die die Assyrer verlassen hatten. Vor allem mit dem türkischen Militär kooperierende so genannte „Dorfschützer“ entwickelten gegenüber der einheimischen Bevölkerung in den vergangenen zwanzig Jahren das Selbstbewusstsein von Kleinkönigen. Oftmals kam es zu Landeinnahmen, die eine Rückkehr der assyrischen Bevölkerung be- und verhinderte.
Nur zwanzig Kilometer entfernt vom Dorf Kafro liegt das syrisch-orthodoxe Kloster Mor Gabriel. Noch vor Sonnenaufgang beginnen die drei Mönche, fünfzehn Nonnen und dreißig Klosterschüler mit der vor allem aus Chorälen bestehenden Andacht. Die Ursprünge der syrisch-orthodoxen Liturgie liegen im Frühchristentum. Das Aramäische ist den syrisch-orthodoxen Christen heilig, weil es die Sprache Jesus von Nazareths und der Apostel war. Die aramäische Sprache ist deshalb zentral für die Vermittlung des syrisch-orthodoxen Glaubens.
Das Kloster Mor Gabriel, 397 gegründet. / Sabine Küper-Büsch, n-ost
Doch die Klosterbewohner fühlen sich in der Ausübung ihres Glaubens bedroht. Drei kurdische Nachbardörfer beanspruchen vor Gericht nicht nur Teile der Klosterländereien, sie monieren auch die Präsenz von Schülern in Mor Gabriel. Der türkische Staat folgte mit einer Klage, die vor zwanzig Jahren errichtete Klostermauer stünde auf öffentlichem Waldboden. Da es in der gesamten Region kaum Grundbücher gibt, muss die Türkei nach EU-Auflagen jetzt das Land durch Katasterämter registrieren lassen. Von den 760 Hektar Land des Klosters sollen nun allein 270 Hektar verstaatlicht werden.
Doch dies ist nur eines der spezifischen Probleme, die die syrisch-orthodoxen Christen in der Türkei betreffen. Seit der Republikgründung 1923 gelten alle Bürger der Türkei als Türken. Nur die griechischen, armenischen und jüdischen Gemeinden wurden im Friedensvertrag von Lausanne als Minderheiten mit spezifischen Rechten, wie beispielsweise dem Unterricht in den Muttersprachen, anerkannt. Weil die syrisch-orthodoxe Kirche jedoch keinen offiziellen Status hat, muss eine Stiftung die Klostergüter verwalten.
Stiftungsleiter Kuryakos Ergün vertritt das Kloster vor dem Gericht in der Kreisstadt Midyat. Auf dem Klosterdach zeigt er das Gebiet, das die Nachbardörfer für sich beanspruchen, um ihr Vieh zu weiden. „Das Kloster brauche nicht so viel Platz zum Beten“, ist eine der Begründungen. Die Lehrtätigkeiten im Kloster sind tatsächlich nach türkischen Gesetzen illegal und werden bislang nur geduldet, weil alle Klosterschüler auch den Unterricht des türkischen Erziehungsministeriums an Schulen in der Kreisstadt Midyat besuchen.
Die religiösen Minderheiten mussten in der türkischen Geschichte bereits mehrfach Pogrome und Vertreibung in Phasen des aufflammenden Nationalismus erdulden. Bereits die Sultane des Osmanischen Reiches machten Nichtmuslimen das Leben schwer. Die Anerkennung als Christen oder Juden war mit einem Leben in Ghettos und hohen Steuern verbunden. Mit dem Eintritt des Osmanischen Reiches an der Seite der Deutschen in den Ersten Weltkrieg im Jahre 1915 schäumte der türkische Nationalismus über. Schlagartig verschlimmerte sich die Lage der Christen armenischer, griechischer oder assyrischer Abstammung. Die Anhänger der „Jungtürkischen Bewegung“ beschuldigten sie der Unterstützung ihrer Kriegsgegner, der Engländer, Franzosen und Russen. Aus minderwertigen „Dhimmis“ waren über Nacht Staatsfeinde geworden. Es waren türkische Soldaten und kurdische Stämme, die die Massaker von 1915-18 durchführten, denen rund 1,5 Millionen armenische und 750.000 assyrische Christen zum Opfer fielen. Zwei Drittel der Assyrer wurden enthauptet. „Wir haben in der Vergangenheit besonders die Kontakte mit den kurdischen Nachbarn gepflegt“, sagt Kuryakos Ergün, „damit diese Vorfälle endgültig der Vergangenheit angehören.“