Estland

Euro-Ernüchterung an der Ostsee

Ausgerechnet zu Beginn des Euro-Krisenjahres führte Estland 2011 die Gemeinschaftswährung ein. Die Regierung zieht eine positive Jahresbilanz und rühmt sich der geringen Staatsverschuldung. Dass die Ostseerepublik über den Euro-Rettungsfonds Milliardenzusagen für Griechen, Portugiesen und Iren gibt, kommt bei der Bevölkerung nicht gut an. Viele Esten klagen über steigende Preise – und immer mehr junge Akademiker suchen nach Perspektiven im Ausland.
 

Jürgen Ligi ist zufrieden und auch etwas stolz. In seinem Büro in Tallinn zieht Estlands Finanzminister eine positive Bilanz: „Die Regierung hat es nie bereut, Estland in die Eurozone geführt zu haben.“ Der 52-Jährige freut sich über ein Wachstum von acht Prozent im dritten Quartal und über das gute Image seines Landes: „Das Vertrauen der Märkte in Estland ist gestiegen und wurde nicht enttäuscht.“



Keiner der 17 Euro-Staaten hat eine geringere Staatsverschuldung als die Baltenrepublik, die in vielen Medien als Gegenmodell zu Griechenland und Portugal gepriesen wird und sich unter dem Slogan „E-Stonia“ als innovatives Land präsentiert. Auch die Rating-Agenturen loben die Fiskalpolitik: Die Überschüsse aus den Boomjahren zwischen 2000 und 2007 zahlte man in einen Stabilisierungsfonds ein, der ein Neuntel des Bruttoinlandsprodukts beträgt und in schlechten Zeiten Spielraum gibt. So kam Estland besser durch die globale Finanzkrise als der Nachbar Lettland – und fährt nun die Ernte ein.



Im ersten Halbjahr 2011 investierten ausländische Unternehmen 858,5 Millionen Euro und nie zuvor reisten so viele Touristen an die Ostsee. „Viele Gäste erzählen, dass sie die Medienberichte neugierig auf unser Land gemacht haben“, sagt Feliks Mägus, der Chef des Hotel- und Gaststättenverbands. Zwischen Januar und Oktober kamen mehr als 1,5 Millionen Touristen, darunter fast 100.000 Deutsche. „Viele mögen es, dass sie kein Geld mehr wechseln müssen und Preise besser vergleichen können“, so Mägus.



Allerdings lernt die Regierung in Tallinn auch die Schattenseiten der des Euro kennen: Im Herbst stimmte das Parlament der Beteiligung am Rettungsschirm EFSF zu und so wird Estland im Ernstfall mit bis zu 1,995 Milliarden Euro haften. „Aus deutscher Sicht ist das wenig, aber im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt garantiert kein anderes Euro-Land für eine höhere Summe“, sagt Minister Ligi, dessen Regierung Kanzlerin Angela Merkel in der Schuldenkrise unterstützt. Anders als in Finnland gibt es in Estland keine euroskeptische Partei, die die Bedenken der Bürger kanalisiert.

So kursiert unter estnischen Facebook-Nutzern eine Grafik, in der Estlands Lohnniveau und Arbeitslosenquote mit den griechischen Werten verglichen werden. Laut der Tabelle liegt das Mindestgehalt in Estland bei 278 Euro, in Griechenland dagegen bei 863 Euro. Die Arbeitslosenquote in Estland ist mit 13,8 Prozent deutlich höher als in Griechenland (6,2 Prozent). Überschrieben sind die Zahlen mit dem Slogan: „Und wer beschwert sich?“. 

„Ich finde es nicht gut, dass wir für die Fehler der Griechen und Portugiesen einstehen“, sagt die 77-jährige Urve. Sie verkauft Strickwaren an einem Stand in der Tallinner Altstadt und findet: „Wer über seine Verhältnisse gelebt hat, sollte seine Probleme durch Sparen lösen.“ Ein Kunde ist unsicher: „Eigentlich ist es richtig, solidarisch zu sein, doch zugleich ärgert es mich, dass ich als Rentner 300 Euro bekomme und ein Grieche sechs Mal so viel erhält.“

Andere Esten denken europäischer: „Wir haben enorm von den Strukturfonds der EU profitiert, und nun können wir etwas zurückgeben“, findet Urmas. Den Angestellten stört jedoch, dass viele Preise vor der Euro-Einführung erhöht und dann aufgerundet wurden. Da die Löhne stagnieren, wirkt die Inflation von fünf Prozent noch stärker. Auch Urmas hat auf Reisen bemerkt, dass sich das Image ändert: „Wir werden nicht länger als Ex-Sowjetrepublik gesehen.“

Allerdings hinterfragen gerade die jungen Esten das Selbstbild ihres Landes. „Die Politiker sollten nicht immer mit unseren niedrigen Schulden angeben, sondern wahrnehmen, dass die Lebenserwartung für Männer nirgends in Europa niedriger ist als hier und die Zahl der HIV-Infizierten am höchsten ist“, meint der Designer Markko Karu. Viele Esten hätten Probleme, die Kredite zurückzuzahlen, die sie in Boomjahren aufgenommen haben. Karu stört vor allem, dass die Regierung sehr auf Zahlen fixiert sei und die Menschen dahinter vergesse. Dabei liegt die Arbeitslosigkeit bei 13,8 Prozent und jeder fünfte Este im Alter zwischen 18 und 24 Jahren lebt in relativer Armut.

Das soziale Klima ist rauer geworden. Immer mehr Akademiker suchen nach Jobs im Ausland: Experten schätzen, dass allein in Skandinavien 100.000 Esten arbeiten. Auch Karu wird immer öfter zu Abschiedspartys eingeladen: „Für sie spielt es keine Rolle, ob man in Estland mit Euros oder mit Kronen bezahlt.“


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