Kirgisistan

Highway übers Dach der Welt

Um 6 Uhr morgens schläft Osch noch. So heißt die zweitgrößte Stadt der kleinen zentralasiatischen Gebirgsrepublik Kirgistan an der Westgrenze Chinas. Der quirlige Basar, tagsüber Motor des wirtschaftlichen Lebens, wird um diese Uhrzeit allenfalls von Straßenfegern besucht. Wenige Stunden später bestimmen weißbärtige Greise und Frauen in bunten Gewändern das Geschehen. Berge von duftenden Honigmelonen und Pfirsichen neben Arzneimitteln, Autoersatzteilen und Hammelhälften werden dem Käufervolk feilgeboten.



Marktfrauen auf dem Basar von Osch. / Henryk Alff, n-ost

In Osch nimmt eine der großartigsten Bergstraßen der Welt ihren Anfang. Quer durch den Pamir schlängelt sie sich über mehrere mehr als 4000 Meter hohe Pässe. Vor 70 Jahren wurde die Straße unter großen menschlichen Anstrengungen durch den Pamir getrieben, um die abgelegenen Hochgebirgsregionen der damaligen Sowjetrepubliken Kirgistan und Tadschikistan mit Lebensmitteln und Treibstoff zu versorgen. Noch heute funktioniert der Highway als wichtige Kommunikationslinie zwischen den nun unabhängigen Staaten, zwischen dem Basar in Osch und den Verbrauchern im Pamir.Tortur der Trasse„Setzt euch dahinten in die Ecke“, bellt der Fahrer des in die Tage gekommenen Busses barsch.

Trotz der morgendlichen Stunde sind bald alle Plätze und Gänge seines Gefährts mit Menschen und Gepäck belegt. Nur der hartnäckige Straßenstaub findet noch eine winzige Lücke im Innern. Auf den Nachbarsitz hat sich Aidarbek Moldagalijew gequetscht, Physiklehrer an der Oscher Universität. Nach einer Reifenpanne und zwei Teepausen ist der Mittdreißiger in seinem Redefluss kaum noch zu bremsen. Er versorgt uns mit allerhand lokalen Anekdoten und Legenden. Sein Gesicht wird ernst, als er auf den Alltag im heutigen Kirgistan zu sprechen kommt: „Fehlende Arbeit, Korruption und Perspektivlosigkeit“, fasst er zusammen. Mit der so genannten Tulpenrevolution und der politischen Ungewissheit, die sie brachte, verbindet der Akademiker nicht viel Gutes.

In Sary-Tasch, dem letzten kirgisischen Ort vor der tadschikischen Grenze, bestimmen andere Sorgen das Geschehen. Bahodir Isahodschaew muss seinen in die Jahre gekommenen und überladenen Lkw russischer Produktion wieder flott kriegen, bevor die Fracht aus Tomaten, Möhren und Wassermelonen verdirbt.„Seit 28 Jahren fahre ich die Strecke von Osch nach Murgab und weiter nach Chorog. Aber heute wird es mit jedem Mal schlimmer“, schüttelt Bahodir den Kopf. Und seine Frau Aziza stimmt ihm zu. „Jeder muss hier sehen, wo er bleibt. Ob Händler, die die abgelegene Region mit Lebensmitteln und Schmuggelware versorgen, oder miserabel bezahlte Zollbeamte, die Schmiergeld fordern.“



Yak auf einer Hochebene bei Murgab. / Henryk Alff, n-ost

Der schwierigste Teil der Strecke beginnt im Niemandsland zwischen den Grenzposten mit Blick auf den 7.134 Meter hohen Pik Lenin, den Tadschikistan einseitig in Pik Unabhängigkeit umbenannt hat. Prustend quält sich Bahodirs Laster den steilen, mehr als 4.200 Meter hohen Pass hinauf, der die Grenze markiert. Links und rechts tiefe Schluchten, reißende Flüsse, die Teile der Fahrbahn weggespült haben. Alle zehn Minuten heißt es anhalten und Kühlwasser aus dem Sturzbach schöpfen. Es dämmert bereits, als wir den sturmgepeitschten Karakulsee erreichen, den höchstgelegenen Salzsee Zentralasiens, umgeben von Hochgebirgswüste und schneebedeckten Fünf- bis Sechstausendern. Das riesige, magisch dunkelblaue Gewässer unweit der noch heute durch einen Stacheldrahtzaun gesicherten Grenze zu China ist das Auge des Pamir.

Hier beginnt der Anstieg zum höchsten Punkt der Trasse, dem 4.655 Meter hohen Ak-Baital-Pass, höher noch als fast alle Alpengipfel. Nur das fahle Mondlicht lässt die wilde Bergwelt erahnen. Rauschende Gebirgsflüsse, Geröllfelder, vergletscherte Gipfel. Im Schritttempo geht es die steilen Serpentinen hinauf bis zum Pass. Alle Passagiere schlafen fest und auch Bahodir döst hin und wieder weg. Erst im Morgengrauen erreichen wir Murgab.Bewegung am Ende der WeltDie Ansammlung aus geweißten Lehmhütten in mondähnlich schroffer Umgebung ist das, was man einen Vorposten nennt. Über 450 Kilometer von Osch, 900 von der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe, aber kaum 100 von der chinesischen Grenze entfernt, war sie einst ein Stützpunkt der russischen Armee. Heute leben hier vor allem ehemals nomadische Kirgisen. Manche von ihnen ziehen im Sommer wieder mit ihren Yak- und Schafherden auf die kargen Sommerweiden. Wie ihre Ahnen in vorsozialistischer Zeit leben sie vom Frühling bis zum ersten Schnee im Oktober in Jurten. Milchprodukte, Fleisch und Wolle sichern ihnen das Überleben.

Doch Konvois von Zwanzigtonnern in Rot und Blau Metallic, denen nur der Stern zum Mercedes-Lkw zu fehlen scheint, künden von neuen Wirtschaftsaktivitäten. Seit vor einigen Jahren der nahe Grenzübergang zu China eröffnet wurde, schwemmen Billigwaren aus dem Reich der Mitte nach Tadschikistan. Chinas Visitenkarte in Form rosaroter Plastiklatschen und kitschig-heimeliger Landschaftsposter ist inzwischen auch in den letzten Winkel des Landes vorgedrungen. Das strukturarme Tadschikistan hingegen hat im Austausch kaum etwas zu bieten.



Chinesische Lkws schaffen Billigwaren ins Land. / Henryk Alff, n-ost

„Los, schnell ins Auto! Diese verdammte Kälte!“ Achmad Babajew reibt sich die Hände. An der Grenze hat der 42-Jährige einen nagelneuen Kleinbus abbezahlt und nimmt uns mit in die Gebietshauptstadt Chorog. Über die baumlose Hochebene auf über 3.500 Metern geht es bei russischen Chansons aus dem Autoradio nach Westen. „Hier oben gedeiht nichts, man muss alles herschaffen“, meint Achmad beim Blick in die atemberaubende Weite. „Zu Sowjetzeiten noch war die Versorgung hier bestens, Kohlelieferungen im eisigen Winter staatlich garantiert.“


Reisezeit von Ende Mai bis Mitte September.
Visa- und andere Einreise-Infos unter www.botschaft-kirgisien.de und www.botschaft-tadschikistan.de.
Flugverbindungen nach Duschanbe oder Bischkek über Istanbul mit Turkish Airlines von vielen deutschen Flughäfen.
Von Bischkek nach Osch über Land oder täglich per Flieger. Wagemutiger Inlandsflug knapp über die Bergkuppen von Chorog nach Duschanbe.
Kompensation von Flugemissionen: www.atmosfair.de
Lektüre: Tajikistan and the High Pamirs: A Companion and Guide (2008, ca. 18 Euro).
Für allgemeine Informationen: www.pamirs.org.


Diese Tage sind vorbei. Und doch nicht ganz. So grüßt im 25.000 Einwohner zählenden Chorog, das sich zwischen kahlen Berghängen in ein Flusstal duckt, noch Lenin den Passanten. Daneben prophezeien wie zum Trotz Zitate des autoritär regierenden tadschikischen Präsidenten Emomali Rachmon Entwicklung und Fortschritt. Für beides engagiert sich der tadschikische Staat momentan eher selten. Projekte internationaler Organisationen zu Ernährungssicherheit und Bildung hingegen haben Hochkonjunktur. Großinvestor ist die Stiftung des Aga Chan, den die hier ansässigen Muslime ismailitischer Richtung als geistiges Oberhaupt verehren.

Sarina Soltanowa senkt ehrfürchtig ihre Stimme, wenn sie vom „Imam“ spricht. „Wenn er nicht gewesen wäre, wäre hier heute niemand mehr am Leben“, ist die pensionierte Ärztin überzeugt. Während der 90er Jahre, als die tadschikische Pamirregion vollständig von der Außenwelt abgeschnitten war, organisierte das Aga Chan-Entwicklungswerk federführend die Nahrungsmittelhilfe. Sarina blickt auf ein Portrait des lebenden Imams, das in ihrer Schrankwand einen Ehrenplatz einnimmt. „Er ist ein Segen für unser Land. Auch in den besseren Zeiten, die jetzt angebrochen sind.“


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