Estland

Streit um den Grenzvertrag mit Russland

Wie so oft bei schönem Wetter nutzt Tarmo Tammiste seine Mittagspause für einen kleinen Spaziergang am Ufer der Narva, dem Grenzfluss im Osten Estlands. Tarmo Tammiste ist Bürgermeister der gleichnamigen Stadt Narva, und vom Rathaus der drittgrößten Stadt Estlands sind es nur wenige Schritte bis zur mittelalterlichen Hermannsfeste. Vom Hof aus sieht Tarmo Tammiste das andere Flussufer. Dort, nur wenige hundert Meter entfernt, erhebt sich eine weitere trutzige Burg, die bereits zur russischen Stadt Iwangorod gehört. Das war früher anders, als Narva und Iwangorod noch eine Doppelstadt bildeten.

„Es ist eine ganz eigenartige Vorstellung, dass hier ein Land endet und dort drüben ein anderes Land anfängt. Wenn wir Staatsgäste aus dem Ausland haben, gehen wir immer hierher. Die Besucher wollen gar nicht glauben, dass dies die Außengrenze der EU ist“, erzählt Tarmo Tammiste. Dabei bildet der Fluss Narva noch gar nicht so lange die Grenze zwischen Estland und Russland. Vor dem Zweiten Weltkrieg verlief sie weiter östlich. Dann wurde Estland von der Sowjetunion annektiert, und die Grenze wurde zu Ungunsten Estlands bis zum Fluss verschoben. Iwangorod gehörte damit zur russischen Sowjetrepublik, Narva zur estnischen Sowjetrepublik.


Die Hermannfeste im estnischen Narva. / Berthold Forssman, n-ost

Im Alltag der Menschen spielte diese Aufteilung keine besondere Rolle, denn Estland und Russland gehörten gleichermaßen zur Sowjetunion. Es gab keine Kontrollen zwischen Narva und Iwangorod. Die Menschen konnten zum Einkaufen oder zur Arbeit problemlos auf die andere Flussseite wechseln.Anfang der Neunzigerjahre, als Estland seine Unabhängigkeit wiedererlangte, wurde der damals bestehende Grenzverlauf nicht geändert. Dennoch ist die Grenze zwischen den Staaten nicht vertraglich festgelegt worden. „Ein Idealzustand sieht anders aus“, sagt Tarmo Tammiste. Dennoch glaubt er nicht, dass sich an dem Grenzverlauf noch etwas ändern werde. „Es gibt längst Zoll- und Passkontrollen an dieser Grenze.“

Um die bestehende Praxis endlich festzuschreiben, bereiteten Estland und Russland Mitte der Neunzigerjahre einen Grenzvertrag vor. Das Dokument passierte das estnische Parlament in Tallinn, aber in letzter Sekunde verweigerte die Duma in Moskau ihre Zustimmung. Marko Mihkelson, der Vorsitzende des parlamentarischen Europa-Ausschusses in Tallinn, vermutet als Grund, Russland habe Estland Steine in den Weg Richtung EU legen wollen: „Vermutlich hat Russland damals geglaubt, es könne den Beitritt Estlands zur EU und zur NATO verhindern oder erschweren. Aber Estland ist trotzdem Mitglied beider Organisationen geworden und gehört heute sogar auch zum Schengen-Raum“, sagt Mihkelson. Das Fehlen des Grenzvertrags sei also nicht zum Hindernis geworden.Estland war sogar bereit, auf seine Gebiete auf der anderen Flussseite zu verzichten, um das Dauerthema Grenzvertrag vom Tisch zu bekommen.

In einem Punkt aber gab es für Tallinn keinen Kompromiss: Der Grenzvertrag sollte in seiner Präambel auf den so genannten Friedensvertrag von Tartu verweisen, ein Abkommen aus dem Jahr 1920, in dem die Sowjetunion Estland als unabhängigen Staat anerkannte. Würde Moskau heute dieser Präambel zustimmen, käme dies dem Zugeständnis gleich, Estland 1940 völkerrechtswidrig besetzt zu haben.Dabei geht es nicht nur um Gebiete oder gar juristische Spitzfindigkeiten: Von der Bewertung der Geschichte hängen beispielsweise auch der rechtliche Status der russischen Minderheit in Estland und die Frage möglicher Entschädigungszahlungen für die erlittene Okkupation ab. Für beide Seiten sind dies wunde Punkte, die ein Einlenken schwierig bis unmöglich machen. Mihkelson verweist auf Parallelen zu anderen Nachbarn Russlands: „Wenn wir verfolgen, wie sich die internationale Lage zurzeit entwickelt, gerade auch am Beispiel von Georgien, dann müssen wir erkennen, dass eine Lösung immer unwahrscheinlicher wird.“


Die Festung Iwangorod in der gleichnamigen Stadt. / Berthold Forssman, n-ost

Auch Narvas Bürgermeister Tarmo Tammiste ist skeptisch, dass es in absehbarer Zeit zu einer Vertragsunterzeichnung kommen wird. Indes hätten sich die Bürger seiner Stadt mit der Situation abgefunden. Für den Streit um den Grenzvertrag interessiere sich in Narva niemand mehr: „Dieser Vertrag wirkt sich nicht auf das Leben in Narva aus. Für die Leute hier ist beispielsweise das Problem der langen Menschenschlangen an den Grenzen viel entscheidender als die Frage, ob es diesen Vertrag gibt oder nicht“, sagt er.

Und darum hat man in Narva längst einen gesunden Pragmatismus entwickelt. Die Überwachung der Grenze erfolgt vor allem elektronisch, weshalb nirgends Mauern oder Stacheldraht zu sehen sind und die Menschen ungehindert am Flussufer flanieren können. Nach Möglichkeit kauft man in Russland ein, weil es dort billiger ist. Die russischstämmige Rentnerin Swetlana kritisiert zwar die scharfen Kontrollen am Grenzposten, freut sich aber, dass es in Narva spürbar aufwärts geht: „In Estland ist eine ganze Menge besser geworden. In der Sowjetunion war alles so grau und heruntergekommen. Jetzt wird so viel neu gebaut und gestrichen.“ Auch ihre Tochter Irina ist optimistisch: „Es gibt viele neue Arbeitsplätze. Immer mehr Unternehmen lassen sich hier nieder.“Mag das Verhältnis zwischen Estland und Russland angespannt sein, Narva und das russische Iwangorod haben Mittel und Wege gefunden, die Probleme des Alltags sogar gemeinsam zu lösen. Tarmo Tammiste ist seit langem per Du mit seinem Amtskollegen in der Nachbarstadt und telefoniert regelmäßig mit ihm. Zwischenstaatliche Probleme löst er am liebsten auf dem kurzen Dienstweg: „Zu unserer Nachbarstadt Iwangorod haben wir ein ausgezeichnetes Verhältnis. Es wäre seltsam, wenn wir nicht vernünftig miteinander umgehen würden, wo wir doch vis-à-vis am selben Fluss leben. Wir klammern einfach die hohe Politik aus.“


Weitere Artikel