Weinselig und weltoffen
Rekordverdächtig sieht das beschauliche Städtchen nicht aus: Die roten Ziegeldächer der Altstadt leuchten aus der grünen Hügellandschaft der südlichsten Alpenausläufer. Die Innenstadt mit ihren Bürgerhäusern aus der österreichisch-ungarischen K&K-Zeit ist inzwischen weitgehend renoviert. Dazwischen erinnern wuchtige graue Betonklötze und mehr oder weniger abbruchreife Altbauruinen an die realsozialistische Stadtplanung des untergegangenen Jugoslawien. Mit einer eher skurillen Attraktion hat es Maribor, die Europäische Kulturhauptstadt 2012, vor sieben Jahren ins Guinessbuch der Rekorde geschafft: An einem unscheinbaren Haus wächst der älteste Weinstock der Welt.
Für Jernij Lubej ist der Weinstock ein absolutes Phänomen: „Sie ist schon in ihrem neunten Leben“, schwärmt der Museumsführer von der Sehenswürdigkeit in Maribor. Der älteste Weinstock der Welt, auf Slowenischen weiblichen Geschlechts, klammert sich seit 450 Jahren an eine unscheinbare Hauswand in Maribors ältestem Viertel, dem Lent. Feuer, Krieg, Reblaus, alles hat der Stock überlebt bis es 1982 fast um ihn geschehen wäre. Gerettet hat die Rebe Tone Zafosnik mit einem, wie er sagt, „chirurgischen Schnitt“. Der ältere stille Herr tritt bescheiden auf. Er habe jahrelang in ganz Slowenien beobachtet, wie die Weinbauern ihre Pflanzen hegen und die Weinsorten studiert. So habe er eben „viel Erfahrung“ gesammelt, auch mit der Sorte Blauer Köllner, zu der die Wunderrebe gehört.
Seitdem gedeiht der uralte Weinstock wieder und mit ihm der Tourismus. Wer nach Maribor kommt, bestaunt das Naturwunder und besucht das neue von der Stadt eingerichtete Weinmuseum. Normalsterbliche dürfen den Wein der Wunderrebe ansehen: Hinter Glas in einer kleinen Flasche. Die Stadt verschenkt Kostproben an besondere Gäste wie den damaligen US-Präsident Bill Clinton oder den Kaiser von Japan.
Drei Weinstraßen beginnen in Sloweniens zweitgrößter Stadt. Der Weinkeller der Vinag ist angeblich der größte Mitteleuropas. Auf drei Kilometern reihen sich Flaschen und Fässer unter der Erde. Darüber, auf dem Schlossplatz und in den zur Fußgängerzone aufgewerteten, kopfsteingepflasterten Altstadtgassen genießen an den vielen lauen Sommerabenden Einheimische und Touristen in den Straßencafés, was ihre Winzer keltern. Im Winter gehen viele gleich nach der Arbeit zum Schifahren. Nur sechs Kilometer vom Zentrum locken im Pohari-Gebirge zwölf Kilometer Pisten. Viele davon sind nachts beleuchtet.
„Wir sind sehr offen hier, man grüßt sich auf der Straße und fragt, wie es geht“, erzählt Marinka Kosar. In Maribor geboren und aufgewachsen hat sie „immer hier gelebt“ und wollte auch nie weg. Sie betreibt ein Reisebüro und organisiert für auswärtige Gruppen Aufenthalte in der Region. Die fröhliche Fünfzigerin schwärmt von sozial gemischten Mariborer „Stammtischen, an denen jederzeit ein Arbeitsloser und ein Anwalt einträchtig gemeinsam Fußball schauen und über Politiker schimpfen“, vom exzellenten Orchester, der Oper, dem Theater, dem einzigen Profi-Ballett Sloweniens oder der Carmina Slovenica, „einem der besten Mädchenchöre der Welt“.
Tatsächlich kann sich das Kulturangebot der rund 100.000 Einwohner-Stadt sehen lassen. Jedes Jahr im Juli verwandeln sich die Altstadt und das Ufer des Flusses Drava (Drau) in ein riesiges Konzert- und Spektakelgelände. Das Lent-Festival zählt zu den größten und bekanntesten Südosteuropas mit zahlreichen Konzerten, Workshops und Straßentheateraufführungen. „Wir lassen uns in Maribor unseren Optimismus nicht nehmen“, versichert Marinka – trotz Wirtschaftskrise und auf zwanzig Prozent gestiegene Arbeitslosigkeit.
Die Stadt stehe zu ihrer Geschichte: Straße der Partisanen heißt nach wie vor die wichtigste Verbindung zwischen Bahnhof und Innenstadt, die vierspurige Titostraße zweigt davon ab und jenseits der alten Brücke beginnt die Straße der Revolution. Als Slowenien noch zu Jugoslawien gehörte bauten die Arbeiter in den Fabriken der Stadt Lastwagen und Busse, gossen Stahl und Eisen. Im 19. Jahrhundert hatte die Eisenbahn die ersten Industriebetriebe ins damals österreich-ungarische Marburg an der Drau gebracht. Nach der Unabhängigkeit Sloweniens mussten die meisten Fabriken aufgeben.
Überall in Maribor finden sich noch die Spuren des real existierenden Sozialismus. Direkt vor dem Schloss erinnert ein wuchtiges Mahnmal an den Zweiten Weltkrieg und die Befreiung vom Nazi-Terror. „Kojak“ nennen die Einheimischen die von Bronzestreifen überzogene haushohe Weltkugel, die an eine Glatze erinnert.
Im ärmeren Süden der Stadt, jenseits der Drava, hat die jugoslawische Armee ein riesiges Areal mit Schuppen und Hallen hinterlassen. Junge Leute besetzten 1994 die ehemalige Brotfabrik der Militärs. „Pekarna“, Bäckerei, heißt das autonome Kulturzentrum mit Kneipe, Büros, Club, Konzertsaal und Übungsräumen für Bands in den bunt besprühten ehemaligen Armeebauten. Die chronisch klamme Stadt, der das Gelände inzwischen gehört, kommt mit dem Renovieren der altersschwachen Gebäude kaum hinterher.
„Dead Brains“, Totes Hirn nennen sich die drei Raggaemusiker, die im winzigen, mit Graffitty bunt besprühtem Club auf dem Pekarna-Gelände nachmittags proben. Sänger Mitja Tradnik – in Jeans, gelbem T-Shirt und mit Rastafari-Mütze auf dem Kopf – lobt den kreativen Nährboden seiner Heimatstadt: „Wir haben hier eine gute Szene, mindestens 100 Bands.“ Wer hier gute Musiker suche, werde schnell fündig. Bekannt würden aber nur wenige. Tradnik, mit Ende 30 deutlich älter als die meisten im Pekarna, kommt vom Radio und legt seit Jahren in Clubs als DJ auf. Da habe er so viel Musik im Kopf, dass er nun selbst Stücke schreibt und singt. Das Publikum allerdings bleibt überschaubar in der kleinen Stadt. „Zu wenig für die vielen Bands hier“, meint Mitja und hofft wie viele, dass das Kulturhauptstadtjahr 2012 neue Fans bringen wird.