Polen

Atomkraft statt zugedrehter Gashähne

Aus Angst vor Russlands Gaspolitik will Polen auf Atomkraft umsteigen

(n-ost) - Die Menschen in Polen frieren noch nicht. Der Gasvorrat reiche bis zum Frühling, heißt es in einer offiziellen Stellungnahme der polnischen Regierung. Außerdem wird derzeit der Gastransport über Weißrussland umgeleitet. Doch die Angst wächst: Es ist kein Geheimnis, dass Polen die Abhängigkeit von Russland immer als potenzielle Gefahr gesehen hat.Zwar werden bisher in Polen über 95 Prozent des Stroms aus Kohle hergestellt, über die Polen reichlich verfügt. Doch seinen Energiebedarf insgesamt kann das Land nur zu 60 Prozent selbst decken. 45 Prozent seines Erdgases bezieht Polen aus Russland, das somit der wichtigste Gaslieferant für Polen ist. Schon seit Jahren versucht Polen allerdings, sich unabhängiger vom russischen Gas zu machen.In der aktuellen Situation will die Regierung von Donald Tusk deshalb schnelle Lösungen präsentieren. Atomenergie und ein Gasterminal in Swinoujscie (Swinemünde), das mit Flüssiggas aus Katar versorgt wird, sollen in Zukunft für die Unabhängigkeit Polens von russischen Gaslieferungen sorgen. Das sind die Kernpunkte eines Regierungsplanes, der jetzt vorgestellt wurde.„Bis zum Jahr 2020 werden wir mindestens zwei Atomkraftwerke bauen“, kündigte Regierungschef Donald Tusk an. Noch im Dezember war vom Jahr 2021 die Rede. Da sollte nur das erste von damals zwei geplanten Werken die Arbeit aufnehmen. Als potenzielle Lieferanten von Reaktoren gelten Frankreich und Südkorea, mit denen bereits „ernsthafte“ Gespräche geführt worden seien. „Wir werden nach dem Anbieter suchen, der uns die sicherste, modernste und die preiswerteste Technologie liefern kann“, betonte Tusk.Sieben bis zehn Prozent der Energie sollen in Polen künftig aus Kernkraft hergestellt werden. Das ist nicht wenig für ein Land, in dem Atomenergie seit der Reaktor-Katastrophe in Tschernobyl ein Tabu war. Über die mögliche Nutzung von Kernenergie wird erst seit einigen Monaten intensiv gesprochen – in Zusammenhang mit internationalen Klimaschutzzielen. Derzeit stellt Polen seinen Strom fast vollständig aus Kohle her – und bläst damit kräftig Treibhausgase in die Luft. Die von der EU verlangte Senkung des Ausstoßes zwang Polen dazu, nach alternativen Energiequellen zu suchen.Nun sollen also zwei neue Atomkraftwerke gebaut werden, und zwar in Nordpolen, wo die Energie-Infrastruktur am wenigsten entwickelt ist. Als einer der möglichen Standorte gilt Zarnowiec in Pommern, 50 Kilometer westlich von Danzig. In Zarnowiec wurde schon in den 80er-Jahren begonnen, ein Kernkraftwerk sowjetischer Bauart zu errichten. Die Bauarbeiten wurden jedoch Anfang der 90er-Jahre abgebrochen, zum Teil wegen heftiger Proteste der Bevölkerung, zum Teil wegen finanzieller Probleme in der Wendezeit. Die vier Reaktoren wurden wieder abgebaut, einer davon arbeitet immer noch in Finnland.Die Lage in Zarnowiec hat aus Sicht der Planer viele Vorteile: Das Grundstück wurde bereits damals gründlich untersucht, es gibt genug Wasservorräte in der Gegend, es besteht sogar ein funktionierendes Netz, durch das der Strom weitergeleitet werden kann. Auch die lokalen Behörden sind dem Projekt gegenüber offen. Bereits vor einigen Wochen wandte sich der Marschall der pommerschen Wojewodschaft an Donald Tusk, um den Kraftwerksbau in Pommern vorzuschlagen. Die Region importiert derzeit 70 Prozent der benötigten Energie.Der einstige Widerstand der Bevölkerung in der Wojewodschaft ist abgeebbt. Sie dürfte nach dem Bau mit Vergünstigungen wie niedrigeren Strompreisen rechnen. Die Behörden locken auch mit dem Versprechen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und die steuerlichen Mehreinnahmen in der Region für die Bevölkerung einzusetzen.Polen könnte bereits vor 2020 Atomenergie nutzen, allerdings nicht aus eigener Produktion, sondern in Form von Stromimporten aus Litauen. Eine polnische Firma will sich am Bau eines modernen Kernkraftwerkes beteiligen, das 2015 das alte Kernkraftwerk Ignalina ersetzen soll. Darüber redete Donald Tusk bereits am Dienstag mit seinem litauischen Amtskollegen Andrius Kubilius.Doch nicht alle sehen den Einsatz der Atomenergie positiv. Andrzej Kassenberg vom Institut  für Ökologische Entwicklung ist skeptisch. „Man braucht nicht elf, sondern 20 Jahre, um ein Atomkraftwerk zu bauen. Es braucht viel Zeit und viel Geld. Dazu kommen noch die Probleme mit der Endlagerung des Atommülls.“ Kernenergie sei ein unnötiger Weg für Polen. Das Land solle sich mehr auf effiziente Nutzung und erneuerbare Energien konzentrieren.Laut Umfragen sind 70 Prozent der Polen für die Atomkraftenergie, wenn ein Werk rund 100 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt liegen würde. Allerdings hätten knapp 50 Prozent ein Problem damit, in der Nähe eines Atomkraftwerks zu wohnen. Die Erinnerung an das Unglück von Tschernobyl, die Angst davor, dasselbe noch einmal zu erleben, ist also noch da.Die Bürger von ihrem Plan für zwei neue Atomkraftwerke zu überzeugen, dürfte der polnischen Regierung nicht schwer fallen. Mehr als Argumente dürften dazu Bilder von frierenden osteuropäischen Nachbarn beitragen. Die Angst vor einem zugedrehten Gashahn überzeugte schon mehr Polen als die Weltklimadebatte.Agnieska Hreczuk
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