Litauen

Alltagskunst im Barockparadies

Als erste Stadt der ehemaligen Sowjetunion ist die litauische Hauptstadt Vilnius 2009 „Europäische Kulturhauptstadt“. Neben ihrem Kulturhauptstadt-Titel feiert die größte der baltischen Republiken ihr Millennium und erinnert dabei an ihre wechselvolle Geschichte. Erfahrbar wird die Historie bei einem Spaziergang durch das Zentrum. Mit 360 Hektar Fläche ist es eins der größten historischen Bauensembles in Osteuropa.

Seit 1994 ist die Altstadt geschütztes UN-Weltkulturerbe. Als Ausgangspunkt einer Kultur-Wanderung eignet sich der dreieckige Marktplatz mit dem „Rotuše“, dem Alten Rathaus. Dort befindet sich das Touristenbüro, und von dort aus gelangt man über die „Pilies-Gatve“, die älteste Straße der Altstadt, zum Fluss Neris und zum nahegelegenen Burgberg.Neben den kleinen Straßencafés fallen dem Wanderer die vielen Kirchen ins Auge. Litauen wurde als letztes Land Europas zum Christentum bekehrt, und etwa 50 Kirchen und Gebetshäuser sind erhalten – viele von ihnen im Stil des Litauischen Barock, denn dafür ist Vilnius berühmt. Vilnius legt damit nicht nur ein architektonisches Zeugnis ab, sondern sein Antlitz ist ein Hinweis auf die Toleranz, die Vilnius seit Jahrhunderten pflegt.

Das weitläufige Gelände der Universität von Vilnius macht dies besonders deutlich. Die Anlage mit ihren vielen verschachtelten Innenhöfen wurde 1579 von Jesuiten als eine der ersten Universitäten Osteuropas gegründet. Der protestantische Architekt Johann Christoph Glaubitz gestaltete für die katholischen Jesuiten die Johanneskirche und außerdem einige orthodoxe und jüdische Gotteshäuser.Im 18. Jahrhundert entwickelte sich die Stadt zu einem der wichtigsten Zentren jüdischer Gelehrsamkeit in Osteuropa. Es gab über einhundert Schulen und Synagogen. So wurde Vilnius auch das „Jerusalem des Nordens“ genannt. Vor 1939 war etwa ein Drittel der Bevölkerung jüdischen Glaubens. Heute besteht die jüdische Gemeinde nur noch aus etwa 4.000 Menschen. Nach Holocaust und Sowjetzeit sind nur noch wenige Spuren aus dem alten lebendigen jüdischen Viertel zu finden.Auf einer Stadtführung durch die Altstadt erfährt der Besucher auch die dunklen Seiten der jüdischen Geschichte: das grausame Schicksal des jüdischen Ghettos. Auch heute gibt es in Litauen noch Antisemitismus. Daher sei Erinnerung im Kulturhauptstadtjahr besonders wichtig, sagt dessen Direktorin Elona Bajoriniené: „Vilnius war immer eine multikulturelle Stadt, die Litauer selbst waren lange Zeit hier in der Minderheit. Unser Programm heißt deshalb: Kulturen Wieder- Entdecken.“ Der Litvak-Kongress, das Treffen der litauischen Juden in Vilnius, sei einer der Höhepunkte dieses Jahres.Geht man vom ehemaligen Ghetto aus weiter, stößt man nahe der glitzernden Einkaufsmeile auf dem „Gediminas-Prospekt“ auf ein weiteres Zeugnis der Geschichte. Aus einem Gerichtsgebäude wurde bald nach Stalins Okkupation das KGB-Hauptquartier. Dort wurden Regimekritiker inhaftiert, viele von ihnen umgebracht. Heute befindet sich dort das litauische „Museum der Genozid-Opfer“. Auch dies ein verstörendes Erlebnis auf dem Spaziergang durch die Kulturhauptstadt 2009.

Trotz der Schwere der Vergangenheit lautet das Motto der Kulturhauptstadt: „Culture live“. Es wird nicht nur auf die Vergangenheit gesetzt. „Culture Live“, lebendige Kultur, will junge Leute ansprechen. Denn die Einwohner von Vilnius sind jung und lebenshungrig, über 40 Prozent sind jünger als 30 Jahre. Die Mischung aus Tradition und vibrierender Gegenwart ist in Vilnius deswegen überall spürbar.Besonders im ältesten Stadtteil von Vilnius, in Užupis. Der Name Užupis bedeutet „jenseits des Flusses“, denn Užupis liegt vom Zentrum gesehen hinter dem Flüsschen „Vilnia“. Wer die kleine Brücke überquert und den sanften Hügel hinaufspaziert, findet alte zweistöckige Häuser vor, deren Hinterhöfe oft noch genauso verfallen sind wie zu Sowjet-Zeiten. Damals hatte Užupis keinen guten Ruf: Es war heruntergekommen und gefährlich. Doch die Mieten waren billig und so siedelten sich dort Studenten und Künstler an.

Sie veränderten allmählich das Flair des Viertels und gründeten schließlich 1997 ihre eigene Republik. Die „Užupio Res Publika“, wie es das bunte Schild an der Brücke verkündet, hat eine eigene Währung, einen Künstler als Präsidenten und sogar eine Verfassung. Einer der 41 Artikel der selbst ernannten Republik lautet: „Jeder hat das Recht, glücklich zu sein“.Als Parlament fungiert eine Kneipe, und dort kann man, wenn man Glück hat, den Außenminister von Užupis treffen, den Übersetzer Tomas Čepaitis. Er erinnert sich an die Anfänge der Republik: „Hier begann auch die Geschichte der Stadt Vilnius. Nicht die der Schlösser und feinen Paläste, sondern die der Leute im Schatten. Viele Künstler lebten hier, sie hatten keine Galerien hier, sondern arbeiteten in ihren Werkstätten.“

Das ehemalige Bohème-Viertel ist populär geworden. Die Wohnungspreise sind enorm gestiegen, die Restaurants schick, und mittlerweile leben auch Politiker und Geschäftsleute dort. Užupis versucht trotzdem, sein eigenes Flair zu erhalten. Und wird auch im Jahr der Kulturhauptstadt kräftig mitmischen:  Mit Eigensinn und bunten Umzügen, wie dem am Tag der Republikgründung – dem Tag der Narren am 1. April. „Wir in Užupis machen Paraden auch ohne besonderen Zweck“, sagt Tomas Čepaitis und lacht.

Vilnius besitzt eine gute kulturelle Infrastruktur: 24 Museen, 20 Galerien, über 20 Theater. Doch viele Aktionen von „Vilnius 2009“ gehen ganz bewusst hinaus aus den Konzerthäusern und Theatern, hin zu den Bürgern. Zwei Drittel der etwa 900 Veranstaltungen sollen keinen Eintritt kosten. Ob jedoch alle Veranstaltungen wie geplant stattfinden können, ist derzeit fraglich. Denn wegen der Finanzkrise kürzte der Staat die Zuschüsse für „Vilnius 2009“ um 40 Prozent.Nun stehen einige der Kultur-Projekte auf dem Prüfstand. Doch Direktorin Elona Bajorinien will zumindest daran festhalten, dass es ein Fest für alle Bürger ist, das nicht nur teure Hochkultur vermitteln will. Deshalb gibt es Veranstaltungen wie das Straßenmusikfestival und das Programm „ Kunst an ungewöhnlichen Orten“. Auf dem Weg zur Arbeit begegnen die Bürger im Stadtverkehr unterschiedlichen Künstlern, in Gestalt von Portraits oder Musik. Wer Bach nicht mag, wartet halt auf den nächsten Bus.


Weitere Artikel