Pilgerweg durch den stillen Westen
Der Jakobsweg mobilisiert Europas Provinz
(n-ost) - Die Sonne blinzelt verschlafen durch den dichten Nebel im Obra-Tal. Ein Hahn kräht. Am Kopf eines schattigen Angers erhebt sich eine stattliche Fachwerkkirche, wie man sie dort, wo die Backsteingotik zu Hause ist, nicht vermutet. Um die Kirche schlängelt sich eine Pflasterstraße in einem Bogen herum. Sonst gibt es nur Sandwege. Das Schloss des früheren Gutsherrn steht noch. Ein Ensemble, wie es Fontane schon vor hundert Jahren beschrieb.Ein Kleinbus hält, ein Grüppchen Jakobspilger steigt aus. Vermutlich sind sie die ersten Pilger in Gorzyca seit dem Mittelalter. Sehr ernst scheinen sie das Pilgern nicht zu nehmen. Das Grab des heiligen Jakob steuern sie gar nicht erst an und Jakobsmuscheln – das Symbol der Jakobspilger – haben sie auch nicht dabei. Bis zum Abend des folgenden Tages wollen sie das 50 Kilometer entfernte Osno erreichen – auf dem historischen Lebuser Jakobsweg.Das Lebuser Land, nach dem der Weg benannt ist, beginnt etwa 80 km östlich von Berlin und ist selbst für die meisten Bewohner des nahen Großraumes Berlin-Brandenburg ein unbekannter Landstrich. Es ist übersät mit Seen, Wäldern und Orten wie Gorzyca. Der Kommunismus und die Lage an der Grenze hat die Provinz jahrzehntelang konserviert. Viel scheint sich seit 1945, als die Bevölkerung des Dorfes nahezu komplett ausgetauscht wurde, nicht verändert zu haben.Der EU-Beitritt Polens ließ die Grenze fast verschwinden, aber nur langsam erwacht das Lebuser Land aus seinem Dornröschenschlaf. Tourismus soll die strukturschwache Region retten, das hat man dort schon lange erkannt, aber noch immer steckt er in den Kinderschuhen. Der Jakobsweg könnte das Geschäft voranbringen.
Kreuz an einer Weggabelung. Foto: Nancy Waldmann
Quer durch das Lebuser Land soll eine der Routen, die nach Santiago de Compostela in Spanien führen, verlaufen. So jedenfalls schildert es die Internetseite über „Jakobswege östlich und westlich der Oder“, die der Historiker Ulrich Knefelkamp von der Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) seit Jahren gemeinsam mit Studenten erforscht. „Es ist schwer, direkte Quellen der Jakobspilger aus dieser Region zu finden“, erklärt Magda Pietrzak, die sich für das Projekt engagiert. „Wir haben uns an den alten europäischen Handelsrouten orientiert, denn die nutzten die Reisenden im Mittelalter.“ Ziel sei, den Jakobsweg als heutigen Pilger-, Erlebnis- und Tourismusweg neu zu installieren.Die seit dem Bestseller von Hape Kerkeling „Ich bin dann mal weg“ erneut gewachsene Popularität des spanischen Jakobsweges und des Pilgerns und Wanderns überhaupt könnte dabei helfen. Allerdings: In Polen macht man einen strengen Unterschied zwischen Pilgern und Wandern. Denn die Polen sind zwar ein Volk von Wallfahrern, aber die Pilger-Tradition ist eng an die Religion geknüpft. „Man pilgert in Gruppen und der Pfarrer führt sie an“, sagt Magda Pietrzak. „Individuelles Pilgern ist in Polen noch etwas Neues.“ Gerade deshalb komme es darauf an, für das Projekt die Unterstützung der Kirche zu haben.Magda gibt sich optimistisch: Es gab bereits Gespräche mit der Wojewodschaftsregierung, Kirchenvertretern und Gemeinden von deutscher und polnischer Seite. Alle freuen sich über das Engagement der Studenten. Immer mehr Interessierte fragen nach Informationen zum Weg. Mit Geld der Euroregion soll die Beschilderung des Weges, sowohl im polnischen als auch im deutschen Grenzgebiet finanziert werden.
Kirche in Chycina. Foto: Ramesch Kompalla
Vor Ort sucht man bislang vergeblich nach Indizien oder gar Wegweisern. Das Pilgergrüppchen hat Gorzyca hinter sich gelassen. Der Weg führt vorbei an einem „Betreten verboten“-Schild. Dahinter verbirgt sich eine Schlucht aus zerrissenem Stahlbeton. Betonbrocken baumeln an Eisenstangen. Eingänge führen in die unterirdischen Gänge eines alten Bunkers.„Das ist nur ein kleiner Teil des Oder-Warthe-Bogens, einer der größten Verteidigungswälle, die jemals in Europa errichtet wurden“, erklärt Matthias Diefenbach, einer der Pilger, beflissen. „Schon kurz bevor die Nazis an die Macht kamen, begann man mit dem Bau.“ Östlich von diesem Ort verlief damals die umkämpfte deutsch-polnische Grenze. Wer solche Wälle baute, muss unbeschreibliche Angst vor den Nachbarn gehabt haben.
Frühstück am Höllengrundsee. Foto: Ramesch Kompalla
Matthias Diefenbach weist in Richtung des Dorfes Chycina, wo am Ufer des Höllengrundsees gefrühstückt werden soll. Er kennt sich aus in der Gegend, nicht zuletzt durch sein Studium an der Viadrina. Den Lebuser Jakobsweg sieht er als eine Art Lehrpfad durch die deutsch-polnische Geschichte und Gegenwart. Und als Weg des sanften Tourismus. Er hat ein kleines Reiseunternehmen gegründet und will mit kulturhistorischer Expertise geführte Touren auf dem Jakobsweg östlich der Oder anbieten.Auf die langwierige Beschilderung der Strecke will Diefenbach nicht warten. Er hat sich selbst eine Route überlegt, die der von Knefelkamps Studenten ausgewiesenen stark ähnelt, aber noch ein paar interessante Orte zusätzlich eingeschlossen hat. Auf seiner Karte zeigt der Reiseleiter jüdische Friedhöfe, gotische Klöster und Naturparks. Bis zur Unterkunft für diese Nacht ist es noch weit. Noch fehlt es an einem dichten Netz von Herbergen.
Das Geheimnis des Höllengrundsees erfährt man leider nicht, im polnischen heißt er wie das benachbarte Dorf Chycina. Foto: Ramesch Kompalla
Am Nachmittag erreicht die Pilgergruppe das Dörfchen Bledzew. Der rechteckige Marktplatz erinnert noch daran, dass der Ort einmal Zisterzienser-Sitz war und Stadtrecht hatte. Am frühen Nachmittag ist es dort sehr belebt. Eine Hochzeitsgesellschaft stellt sich auf und lockt das ganze Dorf aus den Häusern. Der Marktplatz bildet eine schöne Kulisse für das Zeremoniell. Allein, zwei ausgebrannte Dachstühle stören die Idylle.„Das eine Mal lag es am Schornstein, der war schlecht gewartet. Bei dem anderen Haus war es Brandstiftung“, klärt ein Bledzewer auf und schimpft: „So ein Pyromane. Manche Leute drehen hier durch. Oder sie gehen weg, weil sie nichts hält.“ Seine Kinder wohnen ebenfalls in Berlin. Auch das junge Brautpaar sei längst abgewandert, nur zum Heiraten sei es zurückgekommen.Dabei – so scheint es den Pilgern – ist das Lebuser Land ein Paradies. Sein größtes Kapital sind die Wälder und Seen. Ein Kapital nicht nur für den Tourismus, sondern auch für die Selbstversorgung der Einheimischen. Noch trifft man in den Wäldern und Seen mehr Angler und Pilzesammler als Jakobspilger und Kulturtouristen. Das könnte bald anders werden, wenn der Jakobsweg als Chance für die Region begriffen wird, ist die Studentin Magda Pietrzak überzeugt.Nancy Waldmann
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