Europas neue Metropolregion im Norden
Im Hafen der finnischen Hauptstadt Helsinki liegt die Schnellfähre abfahrbereit. In nur hundert Minuten schafft sie die rund achtzig Kilometer lange Reise über den Finnischen Meerbusen nach Tallinn, mehrmals täglich pendelt das Schiff hin und her. Die Passagiere verteilen sich auf die zwei Decks, die Cafeteria und die Snack-Bar haben schon vor der Abfahrt geöffnet. Fährmitarbeiterin Meeli sieht noch einmal nach, ob alles in Ordnung ist – seit Jahren ihr Berufsalltag. „Wenn ich arbeite, habe ich gar nicht das Gefühl, dass ich ständig zwischen zwei Ländern pendele. Inzwischen ist es vielmehr so, dass ich gar nicht mehr richtig merke, ob ich gerade in Tallinn oder in Helsinki bin“, erklärt sie. An die Sowjetzeit, als nur ein einziges Fährschiff verkehrte und die Beschaffung eines Visums eine mühsame Angelegenheit war, kann sich die 29jährige dagegen kaum noch erinnern.
Draußen zieht inzwischen das Hafenpanorama von Helsinki vorbei, die Passagiere haben es sich auf den Sitzen bequem gemacht. „Früher konnte man die Finnen und Esten noch besser unterscheiden, heute bin ich mir da manchmal nicht mehr so sicher“, schmunzelt Meeli. Doch einige Unterschiede sind geblieben: Die Estinnen sind oft stärker geschminkt, die Finnen bevorzugen legere Outdoor-Kleidung. Außerdem haben die Esten früher weniger zu Essen und zu Trinken an Bord gekauft, sondern Brot und Tee in Thermoskannen mitgebracht.
Unter den finnischen Reisenden sind auch Ulf Böstman, seine Frau Inge und seine Mutter Alli, die wieder einmal eine Tagestour nach Tallinn machen wollen. „Seit der Auflösung der Sowjetunion hat sich dort enorm viel verändert“, sagt Inge. „Es ist viel gebaut worden, und manchmal ist Tallinn fast schon moderner als Helsinki.“ Allerdings seien auch die Preise enorm angestiegen, findet Ulf: „Der Alkohol ist zwar noch immer deutlich billiger als bei uns in Finnland, aber alles andere ist inzwischen fast genauso teuer. Estland erreicht da bald finnisches Niveau.“ Die finnischen Besucher seien in Tallinn indes häufig als Schnapstouristen verschrien, beklagen Ulf und Inge. „Weil Alkohol bei uns in Finnland so unverschämt teuer ist, kaufen und trinken die Leute in Estland auf Vorrat.“
Mehrmals täglich fährt eine Fähre ins benachbarte Helsinki. / Berthold Forssman, n-ost
Aber längst haben auch finnische Kultur- und Erholungsreisende Tallinn als attraktives Reiseziel entdeckt, denn die estnische Hauptstadt lockt mit einem gut erhaltenen mittelalterlichen Zentrum und einer lebhaften Kulturszene. Da man zu Sowjetzeiten in Tallinn finnisches Fernsehen empfangen konnte und die Sprachen Estnisch und Finnisch eng verwandt sind, können bis heute viele Tallinner Finnisch zumindest verstehen. Die Finnen fühlen sich daher manchmal fast wie zu Hause, auch wenn es in der alltäglichen Praxis gerade wegen der Ähnlichkeit der Sprachen oft zu Missverständnissen kommt.
Davon kann die Finnin Anna-Mari Parkatti ein Lied singen, die Restaurantchefin des Tallinner Hotels „Viru“. Der Betonklotz am Rand der viel besuchten Altstadt stammt noch aus Sowjetzeiten, gehört heute aber einem finnischen Konzern, der das Gebäude vollständig entkernt und modernisiert hat. „Zweisprachigkeit ist hier Voraussetzung, um einen Job zu bekommen. Denn finnische Kunden sind es gewohnt, dass man in Tallinn mit Finnisch zurechtkommt“, sagt Parkatti. „Allerdings haben die Wörter oft eine andere Bedeutung, und da muss man aufpassen. Wenn ein Finne sagt, dass er ein Essen preiswert findet, versteht ein Este unter Umständen, dass es minderwertig sei – und das bietet manchmal Anlass zu Gelächter oder auch zu Verstimmungen.“ Und wenn ein estnisches Zimmermädchen melde, dass die Zimmer aufgeräumt sind, klinge das für einen Finnen wie „Die Leichen sind hergerichtet.“
Am späten Nachmittag setzt wieder ein starker Fußgängerstrom vom Tallinner Zentrum zum Fährhafen ein. Seit dem Beitritt Estlands zum Schengenraum gibt es dort keine Kontrollen mehr. Deshalb gelangen die Reisenden wieder zügig an Bord der Schnellfähre. Ulf, Inge und Alli sind mit ihrem Kurzausflug zufrieden: „Für uns ist Estland seit der Unabhängigkeit unsere zweite Heimat geworden. Zu Sowjetzeiten fühlte es sich so an, als sei Estland sehr weit weg von Finnland. Man merkte in Finnland kaum, dass es Estland überhaupt gab“, erklärt Ulf. Für ihn ist Estland fast wie ein zweites Finnland. Kein Wunder: Beide Nationen singen ihre Nationalhymnen auf dieselbe Melodie.
Für die Fähre ist es die letzte Fahrt an diesem Tag, und Meeli, die immer noch im Dienst ist, freut sich schon auf ihre Rückkehr nach Tallinn, obwohl sie sich auch in Finnland wie zu Hause fühlt. Seit fünf Jahren hat sie einen finnischen Freund, mit dem sie bis vor Kurzem in Helsinki gelebt hat. Nun haben die beiden eine gemeinsame Wohnung in Tallinn. Gelegentlich vermisst sie Helsinki noch, erzählt sie: „Tallinn entwickelt sich sehr schnell, aber darum ist es manchmal auch eine ziemlich nervige Stadt. Helsinki ist friedlicher, ruhiger und sicherer, es gibt mehr städtisches Grün.“ Dass das junge finnisch-estnische Paar jetzt trotzdem in Tallinn wohnt, liege an Meelis Freund, der sich selbstständig machen wollte – das gehe in Estland eben leichter als in Finnland.
Auf wirtschaftlichem Gebiet sind Estland und Finnland denn auch Konkurrenten und Partner zugleich. Längst ist Finnland der größte Außenhandelspartner Estlands, und seit Finnland seinen Arbeitsmarkt für Esten geöffnet hat, pendeln einige zehntausend Esten zum Arbeiten nach Finnland, darunter auch Villu Ojasoo. Seit ein paar Jahren geht der junge Mann in Finnland seinem Beruf als Feuerwehrmann nach, allerdings vor allem, um etwas dazuzulernen: „Früher gab es kaum Spezialausbildungen für Fachkräfte. Als Estland selbstständig wurde, gab es zu wenige Oberbrandmeister“ erklärt Villu. Über das finnische Innenministerium bekam er die Möglichkeit zur Weiterbildung. Ewig will Villu das nicht mehr mitmachen, denn er vermisst seine Familie.
Zwei Reihen weiter vorn auf der Fähre sitzt Valdar Liive, Direktor der estnischen Handelskammer in Finnland. Auch er fährt regelmäßig zwischen den beiden Städten hin und her und hilft estnischen Unternehmen, Marktlücken in Finnland aufzuspüren. „Der finnische Markt ist in vieler Hinsicht fertig entwickelt, und das heißt, dass die wesentlichen Produkte dort vorhanden sind und deshalb viel Wert auf Qualität gelegt wird. Wir brauchen dort daher nicht mit Billigprodukten zu kommen“, erklärt er. Inzwischen seien die estnischen Unternehmen aber gut auf dem finnischen Markt positioniert.Dennoch gebe es nach wie vor Unterschiede in der Geschäftskultur. „Esten reden im Schnitt um rund 30 Prozent schneller als die Finnen. Die Finnen sind es gewöhnt, längerfristig zu planen, während die Esten spontaner und schneller sind und sich eher an Veränderungen gewöhnen. Aber die Ansprüche an Qualität sind in beiden Ländern sehr ähnlich“, sagt Valdar. Das Zusammenwachsen der beiden Städte gehe deshalb ständig weiter: „Viele Unternehmen betrachten Tallinn und Helsinki bereits als einheitliche Region, die sie scherzhaft als 'Talsinki' bezeichnen. Und im Grunde ist der Finnische Meerbusen zwischen den beiden Städten ja auch nicht mehr als ein breiter Fluss.“