Ukraine

„Die EU könnte Sanktionen aussprechen“ / Interview mit Jewgenija Timoschenko-Carr

Jewgenija Timoschenko-Carr ist 1980 in Dnipropetrowsk/Ukraine geboren. Sie lebte von 1993 bis 2004 in England, wo sie an der London School of Economics Philosophie und Politikwissenschaften studierte.

Ostpol: Ihre Mutter Julia Timoschenko, die ehemalige ukrainische Regierungschefin, sitzt seit dem 5. August im Gefängnis. Es gibt eine Reihe von Berichten, wonach ihr Gesundheitszustand sehr angegriffen ist. Wie geht es ihr?

Timoschenko-Carr: Sie liegt seit Ende November auf der Medizinischen Station des Lukjanka-Gefängnisses. Ihr geht es von Tag zu Tag schlechter. Am 23. November wurde sie in einer Klinik unter Aufsicht der Gefängnisleitung untersucht. Die Röntgenbilder zeigen eindeutig, dass sie operiert werden muss. Derzeit kann sie nicht alleine aufstehen, ist stark abgemagert und hat am ganzen Körper, große blaue Flecken. Einmal pro Tag erhält sie vom Gefängnispersonal eine Spritze mit Schmerzmitteln. Helfen tut das nicht, im Gegenteil, die Beschwerden bleiben und die Nebenwirkungen sind beunruhigend.

Was passiert?

Timoschenko-Carr: Ein Komitee des Europarates hat meine Mutter Ende November unangemeldet in ihrer Zelle besucht. Auch in anderen GUS-Staaten wurden bei Häftlingen ähnliche Symptome festgestellt. Den Spritzen werden Giftstoffe- und Psychopharmaka beigemischt. Das führt bei längerer Anwendung zur völligen Ermattung der Patienten. Für mich sieht alles danach aus, dass man meine Mutter vernichten will.

Wie wird die EU, die internationale Gemeinschaft reagieren?

Timoschenko-Carr: In mehreren Resolutionen aus Europa und den USA wurden die Freilassung Julia Timoschenkos und ihre Teilnahme an den Parlamentswahlen im Herbst 2012 gefordert. Sollte das nicht passieren, will der Westen seinen Umgang mit der Ukraine neu überdenken.

Was bedeutet das?

Timoschenko-Carr: Es könnten Sanktionen ausgesprochen werden, die vor allem die politisch Verantwortlichen treffen. Verweigerung von Visa-Anträgen bis Einfrieren von ukrainischem Vermögen im Ausland, Vieles ist denkbar.

Meinen Sie, dafür gibt es in der EU eine Mehrheit?

Timoschenko-Carr: Wenn Präsident Janukowitsch jetzt nicht einlenkt, wird Europa die Ukraine auf Jahrzehnte verlieren. An den Grenzen der EU sollte neben Belarus aber besser keine zweite Diktatur entstehen, zumal die Ukraine immer auch ein strategischer Faktor der USA gewesen ist. Es ist womöglich die letzte Chance, die Ukraine auf West-Kurs zu halten.

Die EU und die USA haben unmissverständlich klargemacht, dass es eine Annäherung an Europa nur unter Einhaltung der Demokratiestandards gibt. Steuert die politische Führung der Ukraine das Land absichtlich weg von Europa?

Timoschenko-Carr: Die Entscheidung liegt alleine bei Präsident Janukowitsch. Es wird sich zeigen, ob er die Signale der EU und den USA verstanden hat. Derzeit sieht es allerdings nicht danach aus.

Vergangene Woche hat das Berufungsverfahren gegen das Urteil gegen Ihre Mutter Julia Timoschenko begonnen. Sollte der Berufung nicht stattgegeben werden, drohen der Ex-Premierministerin bis zu sieben Jahre Arbeitslager. Wie sehen Sie diesem Tag des Urteilsspruchs entgegen?

Timoschenko-Carr: Keiner weiß, wann das Urteil verkündet wird. Für alle, die die letzten Monate verfolgt haben, mit oder ohne juristische Ausbildung, ist jedoch sichtbar, dass es sich um ein politisches Verfahren handelt, mit dem Ziel, meine Mutter nicht nur politisch, sondern auch physisch zu vernichten.

Gegen Ihre Mutter sind außerdem mehrere neue Strafverfahren eröffnet worden. Die Fälle sind aus ihrer Zeit als Gasmanagerin der Firma United Energy Systems Ukraine (UESU) in den 1990er Jahren. Schon 2001 saßen ihre Mutter und Familienmitglieder wegen der UESU-Fälle in Untersuchungshaft. Was ist heute anders als damals?

Timoschenko-Carr: Ich habe das Gefühl, dass vor zehn Jahren nicht alles derart gleichgeschaltet war wie heute. Die Gegner meiner Mutter haben damals vergeblich versucht sie zu brechen. Die Mentalität von Präsident Viktor Janukowitsch wurde oft mit einem Bulldozer verglichen: Wer sich ihm in den Wege stellt, wird zur Seite gedrängt oder überfahren.


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