Schwejk lässt grüßen
Tschechien übernimmt die EU-Ratspräsidentschaft, seine Bürger aber halten nicht viel von der Union und ihren manchmal abstrusen Vorschriften.
(n-ost) –Zuzana macht das geschickt: Aus einer winzigen Küche bugsiert sie vier Tassen mit köstlichem dicken Gulasch und frischem Brot durch den hoffnungslos überfüllten Gastraum. Die Leute sitzen und stehen dicht an dicht, die Luft ist dank des Zigarettenqualms zum Schneiden. In tschechischen Kneipen wie dem „Ausgeschossenen Auge“ im Prager Szeneviertel Zizkov wird wie selbstverständlich geraucht. „Das lassen wir uns von Europa nicht nehmen“, grinsen Milos und Petr, zwei Mannsbilder, groß und breit wie Schränke. Martin, der Wirt, kommt kaum nach, die Aschenbecher zu leeren.
Für den Kneipen-Wirt Martin bringt die EU vor allem eine Reihe sinnloser Regelungen, zum Beispiel die, dass Gulasch nach vier Stunden weggekippt werden muss. Foto: Björn Steinz
Das „Ausgeschossene Auge“ hat seinen Namen dem böhmischen Heerführer Jan Zizka zu verdanken. Er verlor in den Hussitenkriegen Mitte des 15. Jahrhunderts sein Augenlicht. Er verhalf einem ganzen Stadtteil zu seinem Namen, sein Schicksal war Namenspate für die Kneipe, die eine ganz besondere auch für Prager Verhältnisse ist. Dort haben die Zizkover Karnevalisten ihre Heimstatt. Die Kneipe diente wiederholt als Filmkulisse. Die Getränkekarte hält „Absinth für Abstinenzler“ bereit oder auch „künstlichen Rum“. Männliche Gäste, deren Blase drückt, können bei der Verrichtung am Urinal ihren schon schweren Kopf an eine in Augenhöhe angebrachte lederne Stütze legen. Die Speisen sind einfach, passen aber perfekt zum guten Bier. Auf dem Tresen steht ein großes gläsernes Gefäß mit in Essig und Öl eingelegtem Camembert. „Das ist speziell für Hygienekontrollen“, weiß Libuse, eine aus Mähren zugezogene, hübsche blonde Finanzberaterin, die um die Ecke wohnt und zu den Stammgästen gehört. „Der Camembert stammt aus einem Supermarkt und wird nicht wirklich verkauft. Zuzana bereitet alle Speisen zu Hause zu und bringt sie jeden Tag in die Kneipe mit. Damit umgeht sie die Hygienevorschriften der EU.“ Diese besagen unter anderem, dass ein in der Kneipe zubereiteter Gulasch nach vier Stunden weggeschüttet werden und neu zubereitet werden muss. „Dabei weiß jeder, dass ein Gulasch erst richtig schmeckt, wenn er ordentlich durchgezogen ist, am besten nach zwei Tagen.“ Schwejk lässt grüßen.
Die Herren-Toiletten der Prager Kneipe „Ausgeschossenes Auge“ sind legendär: Wer müde ist, kann sein Haupt an den schwarzen Kopflehnen stützen. Foto: Björn Steinz
Als Tschechien der EU beitrat und damit auch die Brüsseler Regularien zu übernehmen hatte, waren die Kneipen-Wirte Sturm gelaufen. So viel geballten kulinarischen Unverstand wollten sie nicht hinnehmen. Die damaligen tschechischen Spitzenpolitiker, die dem zustimmten, haben in diversen Prager Wirtshäusern bis heute Hausverbot. Für einen gilt das nicht im „Ausgeschossenen Auge“: den einstigen Präsidenten Vaclav Havel. Von ihm hängt sogar ein Bild in der Kneipe. Kunststück: Havel hat hier häufig sein Pilsner gepichelt. Auch mit Lida, der weiblichen Ikone des tschechischen Journalismus, als diese ihren 50. Geburtstag feierte. Nach dem traurigen Ende des Prager Frühlings ging Lida mit ihrem Mann Josef, einem herausragenden Fotografen, ins Exil, arbeitete im tschechischen Programm von Radio Freies Europa in München. Nach der Wende holte Havel den Sender aus Dankbarkeit nach Prag. Lida kam so in ihre Heimat zurück, drehte zahlreiche Dokumentarfilme, hatte eine eigene Fernsehsendung, schrieb einen Bestseller über Havel und dessen zweite Ehefrau Dasa und kümmert sich jetzt unter anderem um den journalistischen Nachwuchs in Tschechien. Auf die Frage, warum die Tschechen so Europa-skeptisch sind, antwortet Lida: „Es liegt am Komplex, den die Tschechen gegenüber den Deutschen haben. Die Tschechen fühlen sich neben den Deutschen klein, kleiner, am kleinsten. Gegen die könne man sich nicht durchsetzen, sagen sie. Dass es nicht darum geht, sich durchzusetzen in Europa, sondern sich einfach mit seinen Fähigkeiten und geschichtlichen Erfahrungen einzubringen, den europäischen Geist zu befördern, begreifen viele nicht.“ Leider sei die Angst vor den Deutschen – und vor einer von Deutschland beherrschten EU – „genetisch codiert“. Man könne sehr leicht mit den Tschechen spielen, wenn man an die dunklen Seiten ihrer Geschichte erinnere.
Stammtischbesucher in Prag erörtern die EU-Ratspräsidentschaft. Foto: Björn Steinz
Dass die übergroße Mehrheit der Tschechen sich weder für die EU-Ratspräsidentschaft noch für den heiß umstrittenen Reformvertrag von Lissabon interessiert, wundert Lida nicht. „Wir haben neben unserer Prager Wohnung ein Haus im Bayerischen Wald. Die Deutschen dort interessieren sich ebenso wenig für die EU wie die Tschechen.“ Wie ambivalent das Verhältnis zu den Deutschen ist, kann man an jedem zweiten Tisch hören. Dort sind die „nemci“, die Deutschen, ein gern diskutiertes Thema. Die Meinungen schwanken zwischen Hochachtung und Abneigung. „Die Frau Merkel war ja schon in alten Zeiten in Prag, kann ja sogar ein bisschen Tschechisch“, lobt Zdenek, ein landesweit bekannter Anwalt, der eine stinkende Pfeife raucht und nebenbei an utopenci – Speckwürstchen in einer scharfen Lake – knabbert. „Das gefällt unserem Premier. Der Topolanek küsst sie immer, wenn sie sich treffen“, sagt Zdenek. „Aber wenn es hart auf hart kommt, macht auch die Merkel nur ihr eigenes Ding“, räsoniert Zdeneks Kumpel Tomas, dessen Erscheinungsbild an den Grusel-Rocker Alice Cooper in wildesten Zeiten erinnert. „Was war denn zu Beginn der Finanzkrise? Die Deutschen sicherten die Konten ihrer eigenen Leute auf den deutschen Banken ab. Und unsere Banken verloren einen Haufen Kunden, die zu deutschen Banken wechselten. Sakra!“ Und dann wird am Stammtisch noch Daniel Cohn-Bendit durchgehechelt, der Grünen-Chef im Europaparlament, der bei einem Besuch auf der Prager Burg dem selbst ernannten „EU-Dissidenten“ Vaclav Klaus heftig die Leviten las, dass dem Havel-Nachfolger die Ohren schlackerten. „Ja, Klaus kann eine Belastung für die tschechische Präsidentschaft werden“, ahnt Lida. „Er fühlt sich momentan wie ein Fisch im Wasser. Wenn der Westen ihm auf den Leim geht, und jede Äußerung von ihm auf die Titelseiten der Zeitungen hebt, dann hat er sein Ziel erreicht. Mit Sicherheit wird er keine Gelegenheit auslassen, seine nicht einmal im eigenen Land mehrheitsfähigen Standpunkte in die Welt zu posaunen.“ Und der Stammtisch spekuliert, warum der Präsident so tickt, wie er tickt. „Er ist schlicht übermäßig eitel“, murmelt Zdenek an seiner Pfeife vorbei und winkt mit beiden Händen widerwillig ab. „Was hat er einst gesagt? Er wolle nicht, dass der tschechische Würfelzucker in einem Kaffee so einfach aufgelöst werde. Eigentlich meinte er damals sich und die Angst vor seiner eigenen eventuellen Bedeutungslosigkeit.“ „Unsinn, er vertritt nur unsere nationalen Interessen“, meldet sich Milos zu Wort. „Was sind denn unsere nationalen Interessen“, fragt sein Spannemann Petr. „Die Amerikaner werden uns nicht gegen die Russen verteidigen, wenn die mal wieder Großmacht spielen wollen. Wir sind Europäer und sollten uns auch so gegenüber den anderen Europäern verhalten.“ Wirt Martin macht kurz vor ein Uhr noch mal die Runde, nimmt die letzten Bierbestellungen auf. Zuzana hat ihre leeren Töpfe abgewaschen und in diversen Plastiktüten verstaut. Vor den Urinalen mit den Kopfstützen drängen sich die Bedürftigen. „Vielleicht“, so der Wirt, „vielleicht kommt ja im nächsten halben Jahr mal der Barroso bei mir auf ein Bier vorbei. Aber erkennen wird ihn wohl kaum jemand. Es sei denn, er hat Havel in seiner Begleitung.“ Sagt’s und putzt den Dreck einer überwinternden Fliege vom Porträt des Ex-Präsidenten.
ENDE
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