„Wir tragen Havel im Herzen und nicht im Gesetzesblatt“
Derlei hat Prag noch nie erlebt: Am Mittwochfrüh werden Hunderttausende auf den Beinen sein, um in einer langen Prozession den Sarg mit den sterblichen Überresten des verstorbenen früheren Präsidenten Vaclav Havel von einer Kirche in der Stadtmitte hinauf auf die Burg zu begleiten. Den alten Königsweg entlang, über die berühmte Karls-Brücke, den Kleinseitner Ring und die steile Neruda-Gasse hinauf führt der Weg an jenen Ort, von dem aus der Verstorbene zuerst die Tschechoslowakei und dann zehn Jahre die Tschechische Republik geführt hat.
Einen in etwa vergleichbaren Menschenauflauf hat womöglich zuletzt 1969 der furchtbare Verbrennungstod des Studenten Jan Palach ausgelöst, den der gesucht hatte, um seine Landsleute damals aufzurütteln, sich nicht mit dem Ende des Prager Frühlings und der sowjetischen Besatzung abzufinden. Seinerzeit war der Altstädter Ring schwarz von trauernden Menschen.
„Mit ihm ist ein Teil von uns gegangen“
Jetzt also Havel. Es ist beeindruckend, was sein Tod seit Sonntag ausgelöst hat. Über Jahre hatte es geheißen, Havel werde vor allem im Ausland geliebt, im eigenen Land dagegen viel kritischer betrachtet. Die Tränen in den Augen vieler Tschechen sprechen eine andere Sprache: sei es auf spontanen Treffen an den Stätten der Samtenen Revolution, wo Blumen niedergelegt und unzählige Kerzen angezündet wurden, auf dem Wenzelsplatz unter dem Denkmal des Heiligen Wenzel, vor Havels Wohnhaus oder in der nicht enden wollenden Reihe derjenigen, die ihm in der Kirche im Zentrum, in der sein Sarg aufgebahrt ist, die letzte Ehre erweisen wollen.
„Mit ihm ist ein Teil von uns gegangen“, sagen viele Tschechen, „Es zerreißt einem das Herz“ andere. „Wer in den Herzen lebt, stirbt nicht“ war auf einem einfachen Zettel zu lesen, der am Reiterdenkmal Wenzels niedergelegt wurde. Nichts vom Hader, den viele Tschechen mit ihrem langjährigen Präsidenten auch hatten, nichts vom vermeintlichen Überdruss seiner mahnenden Worte, sich des Zaubers der Revolution auch dann zu erinnern, wenn man die Mühen der demokratischen Ebenen durchschreiten müsse.
Abgeordnete lauschen Havel-Rede aus dem Jahr 2003
Auch das Parlament, mit dessen Parteien Havel in seinen Amtszeiten immer wieder über Kreuz gelegen hatte, verneigte sich am Dienstag ehrlichen Herzens tief bewegt vor dem Toten. Es scheint so zu sein, als hätten auch die Abgeordneten – wie viele Tschechen – erst im Augenblick des Verlustes ihres Präsidenten gemerkt, was sie an ihm hatten. Im Abgeordnetenhaus wurde nicht über Havel geredet; man ließ ihn selbst zu Wort kommen. Mit Auszügen aus seinen Reden. Zum Abschluss dann Havel in einem Originalausschnitt: „Es geht nicht darum, ob wir in Zeitungen oder Meinungsumfragen gelobt oder kritisiert werden. Wir wurden schließlich nicht gewählt, um allen zu gefallen.“ Worte Havels aus seinem letzten Amtsjahr 2003.
Die Dankbarkeit der Tschechen für ihren früheren Präsidenten nimmt teilweise auch seltsame Formen an. Schon wird gefordert, Straßen und Plätze nach ihm zu benennen, auch der Prager Flughafen ist dafür im Gespräch. Abstrus mutet für viele der Vorschlag der Regierung an, Havel mit einem Gesetz zu ehren. Dieses Gesetz soll aus einem einzigen Satz bestehen: „Vaclav Havel hat sich um die Freiheit und Demokratie verdient gemacht.“ Ähnlich wurden früher schon zwei andere Präsidenten bedacht: Staatsgründer Tomas G. Masaryk und Edvard Benes.
Kritik am „Lex Havel“
Fragt man die Wartenden in der Trauerschlange vor der Kirche danach, dann erntet man durchweg Kopfschütteln. „Wir tragen den Herrn Präsidenten in unserem Herzen. Wir wissen, worum er sich verdient gemacht hat. Dazu braucht es kein absurdes Gesetz dieser Art“, lautet die allgemeine Meinung. Auch in den Zeitungsredaktionen sieht man das so. „Havel jetzt aufs hohe Ross setzen? Aber nein!“, schrieb am Dienstag eines der großen Prager Blätter. Und weiter: „Havels Stücke in Theatern aufführen, seine Texte lesen und sich seiner in den Kneipen erinnern? Ja, ja, ja! Bitte lasst uns Havel nicht in unser gesammeltes Gesetzeswerk stecken.“
Bis zum Freitag wird die am Mittwoch beginnende Staatstrauer andauern. An jenem Freitag werden um 12 Uhr alle Tschechen ihres Präsidenten mit einer Schweigeminute gedenken. Genau um diese Zeit beginnt auch der feierliche Abschiedsgottesdienst für ihn, auf dem Gelände der Prager Burg, in der majestätischen St. Veits-Kathedrale.