Ein Jahr Schengen-Beitritt
Ein Jahr Schengen-Beitritt Polen: Viele Hoffnungen sind erfüllt - doch einige Mauern, vor allem in den Köpfen, sind geblieben
(n-ost) - Knapp zwölf Monate nach dem Beitritt Polens zum Schengener Abkommen herrscht an der Oder-Neiße-Grenze – Normalität. Dagegen war die Stimmung im Dezember 2007 beiderseits der Grenze deutlich gespalten: Während die Menschen westlich der Oder-Neiße-Grenze Angst vor wachsender Kriminalität und einem verstärkten Zustrom illegaler Migranten hatten, freuten sich die Polen auf den weiteren Schritt in Richtung Europa.„Die Ängste, die es vor einem Jahr noch gab, haben sich nicht bestätigt. Dagegen aber erfüllten sich die Hoffnungen, die wir mit dem Schengen-Beitritt verbunden haben“, fasst Witold Drozdz, der stellvertretende Staatssekretär im polnischen Innenministerium, zusammen. Diese Hoffnungen richteten sich zum Beispiel darauf, dass das Leben für Touristen und Geschäftsleute, die nach oder durch Deutschland und Polen fahren, einfacher wird. Das habe funktioniert, betont auch Maciej Duszczyk, strategischer Berater des polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk. Er beschäftigt sich intensiv mit den Folgen des Schengen-Beitritts.Mitte des Jahres führte das Innenministerium eine Analyse im Grenzgebiet durch. Es ging dabei darum, welchen Einfluss der Schengen-Beitritt Polens auf die lokale Bevölkerung in dem Grenzgebiet hat. Es stellte sich heraus, dass die Leute jetzt viel mehr Freiheiten in ihren Entscheidungen haben. Sie schicken zum Beispiel ihre Kinder in den Kindergarten, der ein besseres Programm bietet – egal ob er auf der polnischen oder der deutschen Seite ist. Dasselbe betrifft Einkaufsmöglichkeiten und Dienstleistungsangebote.Die Einwohner dürfen jetzt beispielsweise für ihre Erledigungen den Weg nutzen, der am kürzesten ist, auch wenn dieser über eine Staatsgrenze führt. Es sind dies die alten Wege aus der Vorkriegszeit. Vor dem Schengen-Beitritt lagen diese meist außerhalb der offiziellen Übergänge und durften nicht passiert werden. „Die Grenzregionen verschwinden. Stattdessen entstehen transnationale Regionen, in denen man kaum noch spürt, dass es dort je eine Staatsgrenze gegeben hat“, sagt Duszczyk und ist über die Entwicklung seit dem vergangenen Dezember ganz enthusiastisch. „Das ist das Europa der Zukunft.“Das Entscheidende: Duszczyk ist mit seiner Meinung in Polen nicht allein. Nach einem Jahr Schengen-Zugehörigkeit ist die überwiegende Mehrheit der polnischen Bürger zufrieden: Beinahe 85 Prozent finden den Beitritt wichtig für Polen, fast zwei Drittel glauben, die Bewohner der anderen EU-Länder haben sie in den Schengenraum freundlich aufgenommen. Jeder Zweite denkt, dass Polen dadurch sein Image verbessert hat. Soviel Enthusiasmus erfüllt die Menschen in dem Grenzgebiet allerdings nicht. Sie sind nach wie vor skeptisch.„Manchmal ist es so, dass mit den früheren Staatsgrenzen nicht gleichzeitig auch die mentalen Mauern abgeschafft worden sind. Hier und da haben die Mauern in den Köpfen die Staatsgrenzen sogar ersetzt“, sagt Duszczyk. Manchmal gibt eben auch er seinen Optimismus fast auf. Denn die Menschen könnten nicht immer richtig damit umgehen, wenn plötzlich etwas mit ihren jahrelang gepflegten Stereotypen nicht mehr korrespondiert.Anstatt dem befürchteten „Drang nach Osten“ durch Deutsche erlebt Polen eine Migrationswelle in die entgegengesetzte Richtung. Seit Anfang 2008 sind immer mehr Polen aus dem Grenzgebiet auf die deutsche Seite der Grenze gezogen. Nicht als Arbeitskräfte, sondern um dort zu wohnen. Am gravierendsten ist das Beispiel des Großraumes Stettin, das an das ostdeutsche Mecklenburg-Vorpommern grenzt.Die Mietpreise auf der polnischen Seite sind viel höher als auf der deutschen. Denn dort leiden viele Ortschaften unter einem starken Bevölkerungsrückgang. Deshalb kaufen und mieten sich junge Stettiner die Wohnräume, die zu lange in der Heimat auf die eigenen vier Wände warten müssen. Derzeit wohnen bereits ca. 2000 Polen aus der gut situierten Mittelklasse im mecklenburgischen Kreis Ucker-Randow. In einigen Ortschaften machen sie sogar 10 Prozent der Bevölkerung aus.Ziemlich oft ist ihr Leben dort jedoch nur aufs Schlafen begrenzt – einen Bezug zu dem Ort haben sie wegen mangelnder Sprachkenntnisse und fehlender Freizeitangebote kaum. Doch nicht nur deshalb fällt die Integration schwer. Die deutschen Einwohner überrascht es, dass die materielle Situation der neuen Einwohner aus dem bis vor kurzem armen Nachbarland offensichtlich sehr gut ist. Zum Teil sogar besser als die der Einheimischen, die häufig seit langem ohne Arbeit sind. Es kam bereits vereinzelt zu feindlichen Vorfällen, die sofort von den polnischen Medien aufgegriffen wurden.Der Schengenbeitritt ist immer noch ein großes Thema in Polen. Viel mehr als in Deutschland, wie Kai Olaf Lange von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin behauptet. „Für das polnische Selbstbewusstsein war der Schengenbeitritt eine Art Bestätigung, dass auch Polen zu Europa gehört“, erklärt der Experte. Deshalb sei auch das Ereignis zu einem nationalen Thema geworden. In Deutschland dagegen tauchte der Beitritt in der Öffentlichkeit nur solange auf, wie die Medien die Leser mit möglichen Schreckszenarien überschüttet haben.Als sich diese nicht bestätigten, verlor das Thema in Deutschland an Bedeutung. Insgesamt habe die Kriminalität nämlich nicht zugenommen, versichern sowohl polnische als auch deutsche Behörden. In den Grenzstädten wurden zwar etwas mehr Autos geklaut, aber nur dort. Und auch dieser Trend ist mittlerweile rückgängig. Ein Grund dafür dürfte sein, dass die Bundespolizei stark präsent ist.Denn was im Sprachgebrauch als „abgeschaffte Kontrollen“ bezeichnet wird, ist nicht ganz richtig: Das Gebiet wird weiterhin überwacht. Nur nicht auf dem Grenzübergang, sondern auf einem 30 Kilometer breiten Korridor auf beiden Seiten von Oder und Neiße. Dort patrouillieren die seit Dezember 2007 eingeführten gemeinsamen deutsch-polnischen Grenzstreifen. Im weiteren Inland kontrollieren Beamte Reisende an Stellen, an denen sie es gar nicht erwarten. Das SIS (Schengen-Informations-System) erlaubt innerhalb weniger Minuten eine Person oder ein Fahrzeug zu überprüfen und mit den Daten in einer internationalen Datenbank abzugleichen. So wurden bereits über 350 international gesuchte Personen auf polnischem Territorium erwischt.Eine klare Enttäuschung ist der Schengenbeitritt für Schmuggler und illegale Migranten. Sie haben ihre Chance in den ersten Wochen großzügig zu nutzen versucht. In dieser Zeit haben die deutschen und polnischen Grenzschützer mehrere hundert Migranten aufgehalten. Nach wenigen Wochen hatte sich die Lage beruhigt. Inzwischen werden sogar mehr Fälle von Schmuggel aufgedeckt als früher. Viele von denen, die jetzt noch erwischt werden, nennt die Bundespolizei „unbewusst Illegale“ - also Touristen oder ausländische Studenten aus Polen, die einen kurzen Ausflug nach Berlin machen wollten und nicht wussten, dass ihr Polen-Visum immer noch nicht die Einreise nach Deutschland erlaubt.Das deutsche Innenministerium wird erst am Sonntag seine Bilanz des ersten Jahres des gemeinsamen Schengenraumes vorstellen. Und zwar in Görlitz, wo vor fast genau einem Jahr am 21. Dezember die großen Feierlichkeiten zum Schengenbeitritt Polens stattgefunden haben. Und wo jetzt nichts mehr an die Grenze erinnert.
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