Der Bär tanzt, die Ziege kämpft
Mit erwartungsvollen Gesichtern haben sich Erwachsene und Kinder im Freilichtmuseum von Riga vor einer alten Scheune versammelt, als eine wilde Horde hereinstürmt. Frauen und Männer, die über langen Röcken und Hosen grobe Jacken tragen oder in Decken gehüllt sind. Die einen haben an ihre Wollmützen lange Wolfspelze und Ziegenohren genäht, andere kommen mit Teufelsgesicht, Hasennasen oder Katzenohren daher. Ganz am Ende trottet ein großer brauner Bär heran, der mit zwei Kochlöffeln den Ton für das erste Lied an gibt.
„Wir feiern die Wintersonnenwende“, brummt der Bär. „Wir Letten sind ein Sonnenvolk. Wir verehren die Sonne und müssen ihr jetzt helfen, den Kampf gegen die Dunkelheit zu gewinnen.“ Und während die Tiere ihr Lied anstimmen, rollt der Bär ein langes Seil aus, an dessen Ende ein schwerer Holzklotz geknotet ist. Sofort greift jeder zu, hält sich an dem Seil fest und zieht den Klotz hinter sich her. „Der Holzklotz sammelt all das Schlechte vom letzten Jahr ein“, brummt der Bär, „und ich helfe ihm dabei.“
Graue Erbsen gegen Tränen
Während sich die Menschenkarawane langsam in Bewegung setzt, macht die 28-jährige Maija einen Schritt zur Seite und drückt ihrer dreijährigen Tochter Eleonore ein winziges Stöckchen mit einer kurzen Leine in die Hand. „Ich glaube an diesen heidnischen Brauch“, sagt die junge Frau lachend, „er gibt mir Kraft für das nächste Jahr.“ Während der letzten Wintersonnenwende habe sie ihren Sohn zur Welt gebracht und konnte nicht zur Feier ins Freilichtmuseum kommen. „Da haben wir ein Stöckchen in unserer Wohnung hinter uns hergezogen“, sagt Maija.
Singend ziehen die Leute den dicken Klotz mit einem kräftigen Ruck vor ein altes Bauernhaus. Hier wird der Umzug schon von einer Bäuerin erwartet, die eine braune Tonschüssel in ihren Händen hält und an alle Gäste gekochte graue Erbsen verteilt. „Jeder muss graue Erbsen essen“, sagt sie, „damit im nächsten Jahr keine Träne fließen wird.“
Jahrhundertelang waren Bär, Ziege, Hexe, Schaf und Wolf am Weihnachtsabend in lettischen Bauernhäusern gern gesehene Gäste: Auf dem Lande wurde dieser heidnische Brauch auch nach dem Einzug des Christentums noch bis in die 1930er Jahre gepflegt. Doch mit dem Zweiten Weltkrieg und der sowjetischen Besatzung wurde dem Wintersonnenwendefest ein Ende gesetzt, hat die Ethnografin Indra Cekstere herausgefunden. „Nach dem Krieg standen fast alle diese Bauernhäuser leer“ sagt sie. „Viele Familien waren deportiert worden. Dann kamen diese sowjetischen Zeiten mit der Gründung von Kolchosen und einem anderen Lebensstil. Das hat viele Brauchtümer vernichtet.“
Im Sozialismus war das Wintersonnenfest verboten
An den lettischen Lebensstil von einst versucht gerade das Freilichtmuseum mit seinen vielen Bauernhäusern, Pferdeställen und der Mühle zu erinnern, die auf einem Hügel oberhalb des Sees aufgebaut worden ist. Vor der Mühle entbrennt während des Sonnenwendefestes ein Kampf zwischen Wolf und Ziege, dem die Ziege im Spiel zum Opfer fällt. Ein Ritual, das gerade von den Kindern wiederholt werden müsse, erklärt die Ziege. „Das ist ein heidnisches Opfer-Ritual“, erzählt sie. Denn die Ziege spielt eine große Rolle in den lettischen Volkssagen, bei der Wintersonnenwende steht sie für das Licht, das zurückkommen soll. Man müsse immer das Beste opfern – und das Jüngste. „Und schneeweiß, wie eine Ziege, muss es sein“, sagt die Ziege. „Wenn unsere Kinder es nachspielen bedeutet es, dass wir unseren Ahnen die Hand reichen.“
Auf der Suche nach der eigenen Identität haben auch Gundars und seine Freundin Irita die heidnischen Rituale entdeckt. Während Gundars im Alltag beim lettischen Zoll kontrolliert, lässt er sich kurz vor Weihnachten kein Wintersonnenwendefest entgehen. „Ich liebe diese Partys, das gemeinsame Singen und Tanzen. Im Sozialismus war das verboten, aber wir holen uns diese Atmosphäre wieder zurück.“
Die Begeisterung ist riesig, als zum Höhepunkt des Festes Holzklotz und Holzklötzchen mit all den Sorgen vom letzten Jahr im Feuer verbrennen. Denn nun geht die Party erst richtig los. Löwe, Hase, Katze und Hexe spielen mit ihren Instrumenten auf. Die Leute fassen einander an der Hand, tanzen und spielen im Kreis. Vor allem der Bär bringe Glück – lacht der Bär. Ein Tanz mit dem Bären sei die Garantie für Reichtum, Freude und eine gute Ernte im nächsten Jahr.